Montag, 9. Februar 2009

Monkey Trick/Die Vibration

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Es machte sich in einem Blinzeln ihrer langen Wimpern bemerkbar. Zunächst. Dann
zuckten die Mundwinkel, formten rasch das ertappte Lächeln einer Frau, die nichts
zu verbergen und noch weniger zu verlieren hatte. Ihr Kopf lehnte am Fenster, die Iris
gebannt im Pendel vorbeiziehender Bäume, Backsteinhäuser, heller, leergefegter
Straßen und sauber hergerichteten Gärten. Die Welt atmete weiß. Sie verging sich
sanft am Schlaf derer, die zur Ruhe gekommen waren, gekettet an das kühle,
dampfende Milchglas, das ihre Welt behütete und narkotisierte.
Ihr Blick auf das Weiß war fragend, unsicher angesichts dieser fröstelnden,
unwirklich friedlichen Stille, die über den Dächern hing und der Akkuranz der Gebilde,
natürlich sowie künstlich, den unmerklich pulsierenden Schein schierer Zeitlosigkeit
verlieh. Etwas schwängerte die Luft und gab ihr die erhabene Dichte
eines geschliffenen Monolithes, auf dass diese Welt, diese Straßen sich selbst
und ihre Erbauer überleben sollten.
Aber soweit ging ihre Gedankenreise nicht. Es waren formlose, zurückgelassene
Gedanken, ein es, eine Metastase der Wirklichkeit, blind, aber reaktiv,
und sie gehörten "ihm", dem Raum. Es waren
"seine" Gedanken, "seine" zarte, wohlwollende Annäherung über das Dickicht der
Vibration, ein gut gemeinter Versuch, eine perpetuierende Sekunde lang riechen
zu können, womit das Mädchen seine Gedanken nährte und düngte.
Er, Es, vernahm einen Geruch, der ihn entfernt an altes Moschus erinnerte, ein
wenig wärmer, zugleich verblasst und ein Schatten dessen, was er mal war. Als
hätte man den blassen, faden Moschus in alter Tapete destilliert und ihm die
Zeit gegeben, sich all das einzuverleiben, was die Tapeten gesehen hatten. So
roch er das Alter der erblichenen Geschichten, staubiges, poröses Papyrus,
das an einer warmen Quelle trocknete und darauf wartete, zu Staub zu werden.
Ein Geruch also. Ein Geruch als Antwort auf die unaussprechliche Frage, die dem Mädchen
im Angesicht jener atmenden, zeitlosen weißen Welt auf den Lippen brannte.

Nun aber spürte sie die Anwesenheit eines Fremden, sie, mit
ihren gefaltenen Händen, den unwirklich langen Wimpern.
Vielleicht spürte sie, wie sich die Metastase um diesen Geruch in
ihrer Seele verdichtete, als zirkulierender Schweif, der ihr immer näher kam und
sich blind seinen Weg durch ihr Dickicht bahnte, geräuschvoll und unvorsichtig.
Ihre Iris jedenfalls fixierte ihn fern und beschien ihn mit der gleichen, immanenten
Sehnsucht wie den vorbeifahrenden Zug weißer, mamoresker Farbe an ihrem Fenster,
nur entwich dem Blick die Andacht und ließ eine kalte Herablassung zurück, unerträglich
für ihn, den Raum, und so verschwand er flüsternd aus ihren Korridoren, watete durch ein Meer
aus Stille, ehe er zur geräuschlosen Vibration erodierte, die den Bus unablässig
füllte, die einzige spürbare Form, die er kannte.

Karpis/Geburt

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So wartete das scheue Menetekel, die schillernde Geburtskrone in seinen Händen
haltend, voll Unterständnis für das flutende Licht, das sich über ihn
ergoß, auf die Klinge, die sich seiner Nabelschnur annehmen sollte. Die Hände;
gefaltet zu einem Triptychon, machten joviale, unangemessene Gesten des
Widerwillens. Seine Weigerung, sein blindes Unvermögen waren schmeichelhaft für
jene, die in dieser klebrigen, von archaischem Lärm begleiteten Geburt
eine verkorkste Geste jenseits aller Zwecke sahen. Als sich dann
die Hände erbarmten und den schreienden Balg in die Armwiege nahmen,
wird es seltsam still und sein tausendfach verstärktes Plärren verstimmt
verwundert, angesichts des Gleichmuts jener Arme, denen seine urgewaltige
Kaskade nichts anhaben konnte. Schmutzige Scherben, aufgereiht wie Mohnhalme
haben seine blutigen,
winzigen Füße gebettet, Scherben einer Welt, die den Weg von Lehm zu
Stein fand, der sich zu schwarzem Glas kristallisierte, das zu trägem Silber
zerkochte und den Säugling durch Silber und Blut hatte waten lassen. Eben
diese jene Welt
lag keuchend in einem atemlosen, zermürbenden Todeskampf, bereitgehalten
für das ungnädige Mosaik, das es in sich selbst war, das sich seiner Form lange nach
seinem Glanz entledigt hatte. In einem verzweifelten, erschüttertem Röhren reichte sie jener
Ungnade die Hand, um sie zu binden, um das neugeborene, entgleiste Plärren
zu schützen. Hier fanden die Arme Gottes zurück zu ihrer Bestimmung. Diese Wiege
vermochte das zur Unkenntlichkeit verschrumpelte, klebrige, fleischig-süßliche
Menschenwesen den Weg zu sich zurück finden zu lassen, ohne dass es den
steinigen, von Gepfählten und Zerrissenen gesäumten Weg über die alte Welt
nehmen musste. Wo der Himmel seine Tränen entzündete und die letzten Hände
und Gesichter wie Fetzen von den versteinerten Bäumen hingen, getrocknet
im Wind wie zerschlissene Kleidung, geruchlos, ergraut, ihrer Geschichte beraubt. Wo die
Erinnerung an das umherwandelnde Ich erblasste und den Blick freilegte auf ein junges,
geschundenes Grün, dessen zweifelhafte Symptomatik uns wie seltsame Früchte
dem Leben preisgegeben hatte. Nun war diese Erde gehäutet, Fleisch und Gräser
zu braunem Lehm verdichtet und die Spuren dessen, was es sich selbst zugefügt
hatte: getilgt.
Aber sie konnte nicht anders.
Wie der zuckende, bluttriefende Schoß einer Mutter, umzäunt von Gesichtern,
die, angelockt von ihrem Geschrei, ihr die kosmischen, zeitlosen Pfoten
zum Trost an die Wange legten, wie eine universelle Wurzel, eingebettet
in Matrizen und Lärm war sie gezwungen, selbst ihrem Abgesang das
Menetekel der Geburt beizufügen. Die unsichtbaren Fühler, nun entblößt durch
die Flammen, die sie richteten, entließen die Form ihrer Schablone und füllten
das grüne Derivat, die Fackelrinde und Fetzen rosigen Fleisches in die Dunkelheit,
wo es zu erodiertem Staub wurde, und dieser zu einem Flüstern verkam, das dem
Säugling eines Tages im Nacken sitzen würde. Um seinen Blick für das zu
schärfen, was rückblickend seine Geburt begleitet hatte, als er zum Auge
jenes Sturmes wurde. Um es sehen zu lassen,
wie das Flüstern zu einem Rauschen anschwellen wird, um sich in tausend
Scherben, Tränen und Geplärre zur Form zu zwingen, und um mit sich den Staub der letzten
Geburt über die neue Erde zu tragen.
Und selbst die unbedeutensten Krakel und Fühler würden jemanden füttern können.
Nichts würde vergeudet, nichts würde verloren gehen.

Mittwoch, 13. August 2008

Sitar

Es gibt nur einen Grund, weshalb es so schwer fällt, sich von falschen Sehnsüchten zu befreien, um ein besserer Mensch zu werden. Die Wahrheit liegt weder im nebulösen, demprimierendem Jetzt noch in der Frische der Idee von Morgen, nicht in der Wechselwirkung zwischen den beiden Zuständen und dem simplen, menschlichen Drang zu streben. Sondern in dem, was im Spannungsfeld dazwischen liegt: Dem Kampf. Im Kampf mit sich selbst. Wenn er zur Gewohnheit wird, wird er zum einzigen Zustand, der Sinn stiften kann, ohne den Blick auf die Welt auf beschämende Weise zu sentimentalisieren. Ist diese Entwicklung abgeschlossen, wird der Mensch ein ausbalanciertes, voluminöses, negatropisches Wirbelfeld, das dazu neigt, seine Umwelt seinen Parametern anzugleichen, und Realität ist somit das, worauf sich der Blick des Menschen schärft, während er rückkoppelnd von diesem Blick auf die Welt geprägt wird, von einer allgemeinen Wirklichkeit kann somit keine Rede sein. Ist die Welt, ihre phänomenale Erscheinung in Bezug auf den Menschen von einem rationalen Geist beseelt? Welcher rationale Geist kann unverdientes Leid mit seinem Vermächtnis, der Schöpfung, vereinbaren? Welcher Zweck könnte ungerechtes Leid und die Kaltblütigkeit der Phänomenalität heiligen?

Die grundsätzliche Phänomenalität von Schmerz ist das wohl widersprüchlichste Axiom der Natur, nur ein blinder, irrsinniger Geist würde die Schöpfung mit diesen Mustern versehen, die ein selbstvergessenes Wüten
dieser Empfindung zulassen. Das Reich der Schmerzen endet nie. Rational ist das, was sich als kausales Resultat halten kann, so sehr das für den Schmerz gilt, wenn er systemtheoretisch betrachtet wird, für seine
empfundene Dimension gilt diese kalte Kausalität nicht. Er ist die unerbittlichste und unverzeichlichste Konstante der Natur. Es ist älter das menschliche Bewußtsein, es war da, bevor wir kamen, und dennoch erinnern wir uns an eine Zeit vor dem Reich der Schmerzen. Eine in ihrer Form vollendete Epiphanie, die keinen Raum, keine Zeit kennt, hat ihr leuchtendes Plasma in unserem Bewußtsein verankert, und die materielle Erscheinung dieser Welt ist das Gefängnis, was uns vom Ursprung dieser homoplastischen, zeitlosen Entität trennt. Aber diese Schöpfung, dieses Sein unterliegt Gesetzen, die die Schwachen erst recht angreifen, die Hilflosen in den meisten Fällen dem Blutdurst ausliefern und in seltenen Fällen echten Schutz erfahren lassen, diese Welt kennt keine Gnade, mit niemandem, und die menschliche Natur und der temporäre Zeitgeist seiner Erscheinung sind nur Medien dieses irrationalen Geistes. Für ein Leben im Diesseits tragen diese Gedanken nur zur Entfremdung bei, aber die Welt verdient das vernichtende Urteil des einzelnen, sie verdient es, an den Pranger gestellt zu werden, denn nichts ist zynischer als das kategorische Einverständnis mit dem Sein. Nichts und niemand, keine regulative Idee, kein Theorem, ob humanistischer oder religiöser Natur darf dieses Leid heiligen oder gar mit einem Zweck, einem Sinn versehen, nicht im Makrokosmos und erst recht nicht im Mikrokosmos, das ist geistliche Barbarei. Es gibt keinen freundlichen Tod, keinen Kodex, keine Maxime, die ein gutes und sicheres Leben garantieren können. Der Mensch hat das Risiko, zu jeder Sekunde von Natur und Schöpfung übermannt werden zu können, nicht verdient. Und doch umgibt ihn dieser fade, bittergraue Geist zu jeder Sekunde seines Daseins. Ist es da so schrecklich undenkbar, den Geist, der die phänomenale Welt erschaffen hat, als böswillig darzustellen, als blind, als wahnsinnig, ihm ins Gesicht zu spucken und zu sagen: Deine Versprechen bedeuten mir nichts, wenn sie aus deinem göttlichen Mund gekommen sind, ich leide, und mit mir unzählige andere, und es gibt nichts, was du zu deiner Verteidigung vorbringen kannst.
Es ist die empfundene Dimension von Leid, die die phänomenale Welt unverzeihlich macht.

Vielleicht tobt ein Krieg zwischen einer außer Kontrolle geratenen Schöpfung und einer erkenntnistheoretischen, geistlichen Energie. Vielleicht stehen sich diese zwei Elemente als Entropien gegenüber und wollen sich
gegenseitig neutralisieren. Die Vielfalt des materiellen Entropie ist unfassbar, aber kein zwangsläufiges Indiz für ihre Unzerstörbarkeit. Vielleicht sind all die dualen Prinzipien der kosmischen Ergänzung in ihrer Mannigfaltigkeit ein Erfahrungselement a priori für die wahre Natur des Seins, die uns daran erinnern soll, dass die materielle Welt endlich ist und der uns zugewiesene Platz in der Schöpfung nicht gerechtfertigt, nicht geheiligt ist, dass wir Sklaven der materiellen Schöpfung sind.
Bis diese Fragen beantwortet sind, empfiehlt es sich zu leben, was der Körper hergibt und zu lieben, was das Herz hergibt. Wenn wir schon angekettet sein, kann es kein schöneres ästhetisches Prinzip geben als: Sei glücklich! Und schenke soviel Liebe, wie es dir möglich ist, und setze alles daran, das Leid um deinen Mikrokosmos zu lindern und Freude, Zuversicht zu stiften, und somit dieses Reich, dieses schwarze, ölige, bittere Gefängnis an seine Endlichkeit zu erinnern.

Dienstag, 5. August 2008

Pandoram Stream Pt. 3

3.
Sein jäher Lauf kam zu einem raschen Ende, als ihn auf unergründliche Art und Weise jene Mutlosigkeit überkam die er beim Anblick
des brennenden Baumes empfunden hatte. Er hatte die Mauer der Dunkelheit durchdrungen, stieß und trieb und keuchte in ihrem
unsichtbaren Netz wie ein gefangenes Insekt, das die Augen fest geschlossen hielt, im Angesicht dessen, verzehrt zu werden. Noch
spürte er die geruchlosen, dimensionsspezifischen Schwaden dieser Nacht nicht, wie sie transpirierend in seiner Haut verschwanden,
die Feuchtigkeit, den Mut, den von Wut und Hass angefeuerten Atavismus zu ersticken drohten. Noch fühlte er sich nicht
dem Verzehr ausgeliefert, aber je vollkommener die Dunkelheit wurde und je mehr die Regungen der Nacht abnahmen, seine Sinne nun
in eine dumpfe, kalte Isolation getrieben wurden, desto mehr litt die Entschlossenheit, sich dem Sinnbild einer ewigen Dunkelheit sowie ihrem
realen Korrelat zu stellen unter einer nackten, von Beiwerken losgelösten Angst. Er spürte es. Wie sie ihn vollständig erfasste und seine
Sinne verklebte. Alsbald blieb da keine Kraft mehr zur Erinnerung, ab und zu schoss das Bild des brennenden Baumes durch seinen Kopf,
er blieb stehen, brüllte in die Nacht wie ein von Feinden umzingeltes Tier. Er brüllte und fauchte, fürchtete die Strafe der Wüste nicht,
sie konnte ihm nichts anhaben, keine Art oder phantasievolle, aphoristische Version von Schmerz zufügen, die er mehr fürchtete, als an diesem Ort bleiben zu müssen.
Er war gerannt. Hatte das einzige Licht zurückgelassen, aber er würde diesen Ort bezwingen, und wenn er schon nicht sterben würde,
er würde sich der vollkommenen Nacht nun hingeben, seine Sinne, seine Gedanken, sein ganzes Sein einer verzehrenden Apathie überlassen,
bis er dem Tode nahe genug gerückt war, um jegliches Bewußtsein für Leben wie ein fauliges, unnötiges Anhängsel von sich abtrennen zu können.
Er würde zu einem bewußtseinslosen, reglosen Sack Fleisch werden, das in die Leere starrt, bis die Tristesse der Nacht seine Seele
in einen konturlosen, wabbernden Teppich verwandelt hatte, in den dann die Geister dieser Wüste nach Freuden Funkeldiamanten und Sterne
einnähen dürften wie in ein schlaffes, knittriges Korsett. Er würde die Wüste überlisten, er würde in ihr sterben auf die eine oder andere Art und
Weise, aber weigerte sich inständig, zu einem machtlosen Opfer einer empfundenen, durchlebten Ewigkeit zu werden.
"David, geh zurück."
Er schrie wie von Sinnen, zutiefst erschrocken. Der Träger dieser Stimme durfte keine vier Meter von ihm entfernt stehen, und er erkannte sie
sofort. Es war das rauhe, traurige Timbre des alten Mannes.
David zog seine Waffe und fuchtelte wild mit ihr in der Dunkelheit.
"Wo bist du?! Wo bist du, du verdammter Mistkerl, ich bring dich um, ich schwöre bei Gott ich werde dich töten!" David tätigte den Abzug
mehrmals, jedoch ertönte kein Schuss. An der Stelle des Knalles jedoch hielt plötzlich etwas ganz anderes Einzug, und der tosende,
vor Wut schäumende David rang plötzlich nach Atem. Er hatte sich geirrt. Das Räderwerk dieser Wüste wusste Stellen zu treffen, derer
Schwäche und Empfindlichkeit er sich nicht einmal selber bewusst war.
Das quängelige, leise Schluchzen eines Säuglings, und David war sich sicher, dass es das gleiche Kind war, das in den Armen
der Frau Zeuge seines ersten Ablebens sein durfte.

Natürlich tat es mir leid. Aber Connie war zu weit gegangen, ich glaube sie hat genau gewusst, wie ich reagieren würde, und hat es in Kauf
genommen. Als wolle sie mir damit beweisen, was für ein kalter Hund ich war. Aber sie sollte es besser wissen, mich besser kennen. Ich
zische die letzte Dose Heineken, setze mich auf den alten Ledersessel und sehe sie an. Wie sie da liegt. Blut hustet. Ich war zwar keiner
dieser schwanzlosen Wichser, die sich daran aufgeilen, sich an Frauen zu vergehen, aber ich lass mich nicht anpissen, auch nicht von dir,
Connie, mein Schatz sage ich ihr, und sie steht auf, hält sich die eingebrochene Wange und spuckt mir vor die Füsse. Was für ein
trauriger, schwanzloser Mann ich doch sei, sagt sie mir, und ich sage Connie, Schatz, sage ich ihr, pflanz deinen süßen Birnenhintern sofort
wieder hin oder du hast eine weitere kleben. Ich könne sie mal, ich sei genau wie er, und sie würde mit dem Kleinen weggehen, brüllt sie aufeinmal,
und ich stehe auf. Vielleicht liegt es meinem strapazierten Nervenkostüm, seit der unrühmlichen, häßlichen Geschichte mit Kristof, zu der
ich mich gezwungen sah. Jedenfalls stehe ich auf, hole aus und treffe. Connie liegt, und der Kleine fängt an zu weinen und scheiße,
zwar regt sich nicht viel in mir, aber das ist zu traurig, zu beschissen trostlos, die ganze Szenerie. Ich habe keine Lust darauf,
die beiden zu quälen, und sie bedeuten mir nicht genug, als dass
ich sie trotz aller Konflikte an mich binden muss. Ich lege das Heineken beiseite, greife in meinen Rucksack und schmeiße ihr drei Bündel
von der Kohle hin. Der Kleine schreit unentwegt, Connie schluchzt, ich schweige und gehe zur Tür, den Rucksack, den Revolver und
meine letzten paar Sachen bei mir, ein Taschenmesser, ein Rechnungsbuch. Dieser Ort will mich nicht mehr, und ich will ihn auch nicht mehr, weder an ihm teilhaben, noch in ihm wohnen.
Ich stehe in der Tür, Connie wirft mir einen schwer zu deutenden Blick zu. Wahrscheinlich hat sie recht, ich bin ein schwanzloser, trauriger
Mann, aber ich kann besseres gebrauchen als eine österreichische, wehleidige Schlampe und einen nutzlosen Quälgeist, die den ganzen Tag
nichts besseres zu tun haben als mir das stetig und immer wieder vorzuhalten.
"Fahr zur Hölle, David.", sagt Connie und ich lächle. Die Kohle wirste trotzdem behalten, du kleine Schlampe, sage ich mir, und just in
diesem Moment war ich zur Tür raus und warf den Wagen an.

Er hatte den alten Mann gefunden. Keine paar Meter stand er rechts von ihm, irgendwie hatte er beim Fuchteln und Schlagen in der Dunkelheit
das Jackett des alten Mannes zu greifen bekommen, und nun zog er ihn an sich und drückte ihm die Waffe an den Kopf.
"Du dreckiger Mistkerl...du hast mich betrogen, mich allein gelassen, ich musste deinen Platz einnehmen!"
"So? Tatsächlich? Aber ich bin doch noch hier, David...", die Stimme des Mannes klang, als würde er lächeln.
"Warum zur Hölle bin ich hier?! Wer zur Hölle bist du?!"
"Lass mich los, David. Bitte. Um deiner selbst willen, lass mich los."
"Fahr zur Hölle!", brüllte der Zurückgelassene und drückte ab, doch die Waffe ging nicht los.
"Hör auf die Wüste nach einem Ende abzusuchen, hör auf dich so zu quälen, mein Junge. Kehre zum Feuer zurück, und fang an am
richtigen Ort zu suchen."
Der Zurückgelassene hielt sogleich inne. David; dachte er, und hatte das plötzliche Gefühl, dass sich der dichte Nebel in seinem Kopf ein wenig
löste. Es gab keinen Zweifel daran, er begann sich zu erinnern. Sein Name war David. Er wusste nach wie vor nicht, wie er in die Wüste gekommen
war, was das für ein Ort war, er weigerte sich, irgendwas zu glauben oder zu schlußfolgern, zu stark hatten ihm seine letzten Irrtümer zugesetzt.
"Wie ein gehetztes, gepeinigtes Tier, nicht wahr, alter Mann?", schluchzte David. Er ließ den alten Mann los.
"Hier."
Er schien ihm etwas hinzuhalten.
"Nimm ihn."
Ein Quängeln ertönte erneut. David steckte die Waffe ein, und obwohl sich alles in ihm sträubte, nahm er den Säugling an sich. Er war zu schwach,
zu müde, um zu widersprechen.
"Mit geballten Fäusten, David. Immerzu, mit bitteren Schlägen gegen die Fassade, die Fratzen brechen ein." Er war sich zutiefst sicher, dass ihn
der alte Mann besser sehen konnte als er ihn. Sehen und Hören schien für ihn keine Rolle zu spielen, er sprach die Dinge aus, die schon seit jeher
im Raum hingen, die David's Leben zutiefst geprägt hatten, Worte, die bereits wirkten, ehe sie ausgesprochen wurden, und David konnte sich
nach wie vor nicht entscheiden, ob er ihn als Sprachrohr einer bestimmten Macht oder Wahrheit oder als eigenständiges Wesen betrachten sollte.
"Und manchmal erwischt es die eine oder andere Fratze zuviel."
"Bin ich in der Hölle?"
"Wenn du es so nennen willst..." Der Mann klang, als würde er einen schelmischen Witz machen. Und David musste plötzlich lachen. Aber aus
anderen Gründen, es schien, als würde die durchtriebene, perfide Hyäne in ihm hochkommen, derer er sich schon bewusst war, ehe er sich an
seinen Namen erinnern konnte. Deswegen waren ihm diese Worte so in Erinnerung geblieben, er war es, von Anfang an, er war das gehetzte und
gepeinigte Tier.
"Fahr zur Hölle, alter Mann.", flüsterte David und hielt ihm denn plötzlich stillen Säugling hin.
"Dieses Gericht, dieses ganze Abstrafen meiner Sünden. Vor meinen Augen fügen sich die Sünden zusammen, die ich begang, den Schmerz,
den ich anderen zufügte...soll mir das leid tun?"
Der alte Mann schwieg.
"Ich fühle mich schuldig, ich fühle diese Reue, diese Scham, alter Mann. Wieviel soll ich noch leiden? Wieviel soll ich noch auf mich nehmen,
ehe dieser Ort ruhe gibt und mich gehen lässt? Was willst du? Was will dieser Ort? Was kann ich noch geben, als all meinen Schmerz, all
meine Last, mein Leid, ich zeige Reue, ich wehre mich, aber ich zeige Reue, ich will doch nur frei sein, oder zumindest in den Tod entlassen
werden."
"Du bist nicht du selbst, David. Hast du immer noch nichts begriffen?"
David schwieg.
"Weißt du immer noch nicht, warum du hier bist? Glaubst du wirklich, dass all diese Worte, die ich an dich richtete, der gehetzte Köter,
die geballten Fäuste, David, glaubst du wirklich, dass das meine Worte sind?"
Er lachte.
Etwas seltsames schwang in diesem Lachen mit.
"Es ist so einfach, David.
Wach auf."
"Es ist die Hölle, nicht wahr? Ich bin schlichtweg tot. Ich bin gefangen in meinem eigenen Sündenpfuhl."
Stille.
"Dieser Ort ist mir als Strafe für die Ewigkeit gegeben worden. In ihm werde ich die Ewigkeit absitzen, für alles was ich getan habe."
Der alte Mann nahm den Säugling an sich.
"Ich akzeptiere. Ich kehre zurück. Ich nehme deinen Platz ein."
David wartete ab, doch die Dunkelheit erwiderte ihm nichts. Der alte Mann war wortlos verschwunden, und das ausgerechnet, als
er sein finales Resümee gezogen hatte. Lag er falsch? Was spielte es für eine Rolle....in ihm erschlaffte alles, jedes Aufbegehren. Dieses
träumerische, unwirkliche Gefühl, das ihn beschlichen hatte seit er in der Wüste aufgewacht war, dieses dumpfe, neblige Gefühl der Irrealität
beendete die Transpiration und fiel über sein Bewußtsein, sein Weltverständnis her wie eine Schlammlawine und erstickte alles vorher dagewesene.
Er akzeptierte.
Wortlos machte er kehrt und machte sich auf den Weg zurück zum Feuer.


Schuld

1.
Er war zur Staffete geworden. Seine Persönlichkeit, oder das, was nach der Amnesie davon noch übrig war, hatte er endgültig aufgegeben. Seine
Vergangenheit, die letzten Versuche, Ordnung in das Chaos seiner Erinnerungen zu bringen, lagen lange zurück. Sein Zeitempfinden war
eingebrochen, der Blick im Feuer konnte erst seit Minuten oder Monaten stattfinden, vielleicht war er einen Tag in der Wüste, vielleicht ein
Jahr. Das spielte alles keine Rolle mehr für ihn, er, der sich David nannte, oder viel mehr David genannt wurde, hatte seinen Platz am Feuer
eingenommen. In ihm regte sich nichts, seine geistliche Landschaft glich einer Steindüne, über deren karge Oberfläche ab und zu ein bedächtiger,
kurzlebiger Hauch der Erinnerung bließ. Einzig seine suggestive Freude an den wärmenden Flammen, an ihrem unberechenbaren, rätselhaftem
Tanz und dem schwachen, gleichmäßigem Pulsieren der Glut hielten am Leben, und es war ein archaisches, roheres Gefühl als simple Freude.
Es war die dumpfe, selbstvergessene Zufriedenheit. Das gefühlslose, erkaltete Ruhen im Selbst, ein Zustand der Apathie, der bewußtseinslosen, entleerten
Ruhe.
So verging die empfundene Ewigkeit.

In diesem Zustand, vor dem Feuer kauernd, bekam er Besuch.
Der junge Mann trat ganz vorsichtig an David heran, sein Anblick musste zutiefst verstörend wirken. David registrierte seinen Besucher, aber würdigte
ihn keines Blickes, obwohl sehr wohl wusste, was sein Erscheinen bedeutete.
Seine Stunde war gekommen.
Er sah auf, erblickte einen dunkelhaarigen, mit beschmierter Latzhose und rußigen Arbeiterhänden Jungen südländischer Abstammung. Vielleicht
ein Mexikaner. Vielleicht aber auch Spanier. Er sah dem ängstlich dreinblickenden Jungen in die Augen, atmete tief ein.
"Setz dich." flüsterte David.
Der Junge hatte jene unergründliche Tiefe in David's Augen wahrgenommen und fühlte sich von ihr bedrohter als vom Revolver, den der alte Mann
vor seinen Augen im Schoss hatte. Er zauderte nicht lange, gehorchte und setzte sich.
David öffnete die Trommel der Waffe, entleerte sie bis auf eine einzige Kugel und sah traurig auf. Er sah den Jungen an, versuchte hinter dieses
Gesicht eine Geschiche zu erahnen, sich vorzustellen, was dieses Gesicht, diese Hände geformt, diesen Jungen zu dem gemacht hatten, was
er war. Sein Sinn für den Menschen, für seine verschlingende Weltlichkeit und seiner Allgegenwart jenseits dieses Ortes kam schleichend und
langsam zurück, aber es war zwecklos. Er würde die Geschichte dieses Jungen nie erfahren.
Er musste das tun, diese Gelegenheit stand ihm zu. Der Kreis schloss sich, er würde als Glied der Kette abgelöst werden.
"Du musst wissen, es ist das einzige was ich tun kann."
Der Junge sah ihn verständnislos an. Dann blitzte etwas in seinem Gesicht auf, seine Züge erweichten, David hatte nicht damit gerechnet,
es war schlichte Besorgnis.
Der Junge schien den Revolver gar nicht wahrzunehmen. Nicht den drohenden Gestus des Öffnen der Trommel. Er sah David lange und tief in die
Augen.
"Sir, geht es Ihnen gut?"
Ein schmerzliches Lächeln huschte über David's Gesicht. Diese Frage brachte ihn seltsamerweise zum Stocken. Vielleicht war es die
unmittelbare Menschlichkeit, die Simplizität und einfache Intension, die dieser Frage innewohnte, die sogar nicht zu dieser Welt, dieser Wüste
und David's Vorstellung von ihr passen wollte. Aber er ließ sich nicht beirren, reichte dem jungen Mann die Waffe, nachdem er die
Trommel gedreht und in den Lauf zurückgesteckt hatte.
"Halt Sie dir an den Kopf.", flüsterte David, und der junge Mann sah ihn an, als hätte er völlig den Verstand verloren.
Vielleicht war es die Müdigkeit, die gebrochene Aura dieses Mannes, aber das Reichen des Revolvers wollte ihm nicht ins Bild einer
drohenden, fordernden Geste passen. Es war vielmehr eine unangebrachtes, verirrtes Angebot, dessen Gründe der junge Mann
erst gar nicht verstehen wollte.
Er nahm den Revolver.
Und legte ihn neben sich.
"Sir, ich frage Sie noch einmal. Geht es ihnen gut? Herr Gott, was machen Sie denn hier? Wie sind Sie hergekommen? Sie sehen vollkommen
erledigt aus, man, warten Sie einen Augenblick." Er öffnete den Reißverschluss am Bauch seiner Latzhose und holte einen Lederbeutel heraus.
"Trinken Sie, man."
David's Gesicht zuckte. Er verstand nicht so recht. Die Worte erreichten ihn nicht, schienen gar nicht ausgesprochen zu werden. Der Mund
des jungen Mannes bewegte sich und schien in einer fremden, ihm unnachvollziehbaren Sprache zu reden.
"Der Revolver...nimm ihn..."
"Alles klar, man, aber erst nehmen Sie nen Schluck."
David starrte auf den Lederbeutel. Er konnte sich nicht wehren, seine Hand schoss plötzlich hervor und griff nach dem Lederbeutel. Hastig
öffnete er den Verschluss und trank, ohne recht zu wissen, was er da tat.
"Sir, fünfundzwanzig Meilen von hier hab ich nen roten alten Pick Up gefunden. Gehört der Ihnen?"
David verschluckte sich, hustete und blickte auf.
Auf den jungen Mann wirkte er in diesem Moment wie ein frisch kastriertes, vollkommen verzweifeltes, die Welt nicht mehr verstehendes
Untier, und in David selbst rief das Wasser, das seine Kehle runterrannte ein ihm vollkommen fremdes, vergessenes Gefühl der Sättigkeit
und Wärme hervor. Sein Körper füllte sich mit Gefühl, mit Leben, David starrte fassungslos an sich herunter. Sein Herz fing an zu rasen,
er fing an zu wimmern. Er hatte das Gefühl, zum ersten Mal seinen Körper zu spüren. Er wusste nicht, ob er dieses Körperempfinden
jemals besessen hatte, wenn, dann musste es unendlich lange her sein, in einer Zeit und in einer Welt, an die er sich nicht mehr erinnern
konnte. Er sah um sich. Die Dunkelheit der Wüste war einem rosanen Dämmerungsgürtel gewichen, der ihn und den jungen
Mann zu umgarnen schien. Plötzlich roch er das Feuerholz erneut, ein Geruch, an dem sich seine Geruchnerven schon so stark
gewöhnt hatten dass sie ihn nicht mehr registrierten. Aber schlagartig erfasste er David in großer Fülle und Intensität. Sein Körper
begann zu beben.
"Sir?"
David hustete und beugte sich vor. Versuchte aufzustehen, und der junge Mann tat es ihm gleich und versuchte ihn stützen. Aber
David riss sich los, stolperte ein paar Meter, ohne seinen fassungslosen Blick von der Feuerstelle zu nehmen.
"Ganz ruhig Sir, es ist alles in Ordnung."
David sah auf, sah an dem Jungen vorbei...hatte jemand was gesagt? Er hustete erneut, diesmal so stark, dass er sich kaum noch
auf den Beinen halten konnte.
Dann explodierte in seinem Magen eine unerträgliche Hitze, und er fiel vorn über hin. Der junge Mann hatte schnell
genug reagiert und fing David's freien Fall auf. In seinen Armen lag er dann, hatte vollkommen das Bewußtsein verloren, die Augen
weitaufgerissen und der Mund war wie zu einem lautlosen Schrei grotesk aufgerissen. Der junge Mann stützte ihn und ließ ihn
zunächt sachte auf den Wüstensand herab. Sein Blick wanderte hastig in der Ferne, als er plötzlich den silbernen Revolver
erblickte.
Er lag da, um ihn herum die Kugeln, die der alte Mann der Waffe entnommen hatte, und dem jungen Mann schien es seltsamerweise,
als hätte dieser Revolver schon immer dort gelegen. Die Flammen hatten nachgelassen und züngelten nicht mehr ganz so stark
wie seit seiner Ankunft an der Feuerstelle, die Glut hatte nachgelassen, vielleicht lag es an dem leichten Regen, der schon
eine ganze Weile unbemerkt fiel.

2.
Ich packe den Kassierer und ziehe ihn unsanft über die Theke. Die Leute sind fassungslos, manche schreien, die meisten
liegen auf dem Boden und wimmern irgend ein unverständliches Zeug, so der Sorte "Herr im Himmel bitte blabla", aber
ich seh's nicht kommen, dass der liebe Herr demnächst durch diese Tür kommt und mir höchstpersönlich die Waffe aus
der Hand nimmt. Also was das angeht, stehen die Leute hier auf verlorenem Pfosten.
Klar haben diese verfickten Donut-Waffle-Houses nicht viel in der Kasse, aber es sollte reichen, um über die Grenze zu
kommen. Peng Peng, ein paar Schüße in die Luft. Ein wenig Geschepper entmutigt die Menschen in solchen Situationen
immer zutiefst, wenn man das oft genug gemacht hat, weiß man, welche Sorte Menschen wie auf so ne Geschichte
reagieren und wer sich hier und da zum Held der Unterdrückten aufschwingen will. Meistens sind das Excops, reaktionäre
Rednecks oder Staubsaugervertreter, deren bis dahin fast unbemerkte agnostische Romantik aufkocht und ihnen
erzählt, jetzt sei ihre Stunde gekommen. Hab schon einige dieser Spinner umlegen müssen, insofern behielten die meisten
recht, ihre Stunde war gekommen.
Ich lass mir den Schlüssel geben und öffne die Kasse. Der gefährlichste Moment, weil man sich auf das Geld und das Öffnen
der Kasse konzentrieren muss. Aber es geht gut. Gerne mache ich das nicht. Ich schalte auf Autopilot, das ist am sichersten.
Sonst überkommen mich noch Zweifel, und das kann ich beileibe nicht gebrauchen.
Ich drehe mich um, und will den Laden mit einem höflichen Hofknicks verlassen, als sich mir diese alte Mann plötzlich in
den Weg stellt.
"Tu das nicht, Junge.", sagt er.
"Wie bitte?", sage ich.
"Leg die Waffe weg, Junge. Du stürzt dich damit ins Verderben, dich und deine Seele und alle, die dich lieben."
"Wie bitte?", sage ich erneut. Keine Ahnung warum. Die Sicherung brennt durch. Wie so oft. Ich hebe die Waffe
und drücke ab. Einen Schuss in den Kopf, zwei in den Bauch beim Vorbeigehen. Der alte Mann ist sofort tot, und auf einmal
fangen die an zu weinen. Zu wimmern wie die Hunde. Ich steige in den Wagen und fahre los. Niemand versucht mich aufzuhalten.

Ich war schon fast zehn Meilen an der Wüste entlang gefahren, als es plötzlich anfängt.
Das Gesicht des alten Mannes will mir nicht aus dem Kopf.
Ich habe in meiner soliden Laufbahn einige Leute über den Haufen geschossen, ich weiß nicht, warum mir der alte Mann
nicht aus dem Kopf will. Ich versuche ihn zu verscheuchen, sein markantes, scharf geschnittenes Gesicht, die vielen
Falten, die jugendliche, vom Alter seltsam verschonte Nase. Aber es will mir nicht gelingen. Das geht so weit,
dass ich anhalten muss.
Ich steige aus dem Wagen, Kotze kommt mir hoch, ich übergebe mich und habe Mühe, auf den Beinen zu stehen.
Auf einmal schießen mir diese Tränen in die Augen, und ich kann nichts tun. Rein gar nichts. Gott im Himmel,
was ist hier los? ( Ich denke nicht, dass der werte Herr jetzt die Interstate entlang galoppiert kommt auf nem goldenen Ross
und mir höchstpersönlich die Tränen sanft von den Wangen wischt, was das angeht stehe ich also auf verlorenem Pfosten. )
Und es will nicht aufhören. Es geht sogar so weit, dass sich mein Magen verkrampft, ich liege gebückt und zusammengekauert
auf der Straße neben Wagen, Beute und Revolver. Und ich weine, ich kann nicht anders, ich weine und weine und es hört
verdammt nochmal nicht auf.
Dieses Gesicht des alten Mannes. Seine väterliche Scheißfresse. Auf einmal sehe ich sie alle, die paar Frauen und die
unzähligen Männer, die meinen unbändigen Wut zum Opfer gefallen sind. Ich habe nicht den leisesten Hauch einer Ahnung,
warum das just gerade einbricht, warum es mich so stark erwischt. Warum mich ihre Gesichter berühren. Der Autopilot
war zwar inzwischen ausgeschaltet, aber ich hatte noch nie damit kämpfen müssen, ich hatte mich nicht mal um diese Kälte bemühen
müssen, sie war mir gegeben, ich hatte nie auch nur einen Gedanken daran verschwendet, was ich anrichte...
Tag ein Tag aus....
Wie ein gehetztes Tier, gepeinigt, getrieben, und geschlagen.
All diese Fratzen, diese feindlichen Fratzen, meine Opfer, diese Fassade, auf die ich Tag ein, Tag aus einschlug,
mit diesen blutigen, geballten Fäusten...und ich weiß nicht mal mehr, warum ich diesen alten Mann umgebracht habe,
es gibt nicht den leisesten Grund dafür, dass ich sein Leben ausgelöscht habe...aber es muss einen Grund dafür geben,
warum mir das plötzlich so unerträglich erscheint....
Der Mensch...einer wie...ich...ein Mensch....WIE ICH.....
Er wird schwach, müde, er wird traurig. Aber er besteht auf sein Recht zu leben. Er besteht darauf und jeder von uns besteht auf sein Hoheitsrecht,
vor seinem eigenen geistlichen Auge gelten zu dürfen, etwas bedeuten zu dürfen. Und dann verschmilzt die Welt vor seinen Augen zu einer feindseligen Masse neidischer,
unnachgiebiger und ungönnerhaften Fratzen, und wir ballen unsere Fäuste, schlagen in diese Fassade ein, getrieben und erregt vom Geruch unseres eigenen Blutes. Wir schließen die
Augen und prügeln wie von Sinnen auf diese Fassade ein, bis wir müde werden, oder bis diese eine, unsere Faust einmal zu oft die falschen Fratzen zerberstet.
Dann suchen wir uns einen ruhigen, dunklen Ort zum Sterben, tätigen vielleicht einen letzten Anruf. Dann warten wir. Und sterben, unerlöst und benebelt....
Ich stehe auf und taumle auf die Prärie zu, bereit zu laufen, bis ich umkippe. Alles erscheint mir plötzlich unerträglich, und ich weiß, dass ich eine rückgangslose Last
gerade in mein Herz gelassen habe, die mich nie wieder verlassen wird. Nie und nimmer. Ich laufe, stolpere, halte mir den Bauch, ich weine, ich laufe, und ich
werde nicht aufhören, bis es so weit ist und meine Stunde gekommen ist, immer weiter in den Rachen dieser gegenstandslosen, ewigen Prärie.
Was Vergebung und diesen ganzen Mist angeht,
stehe ich hier auf verlorenem Pfosten....

....GOTT WAS HABE ICH NUR GETAN......


Ablass

1.
Als er erwachte, saß er auf dem Rücksitz einer alten scheppernden Karre, und der Junge fuhr.
"Ah. Sie sind wach. Mister, ich konnte leider nix mehr für Ihren Wagen machen, da ging nix mehr, Motor im Eimer. Und Sie auch, man, Sie sind ziemlich mitgenommen.
Was zur Hölle haben Sie da draußen gemacht? Ohne Wasser, ohne Nahrung?"
David schwieg.
Ein leichtes Unbehagen schien den Jungen zu erfassen. Er packte das Lenkrad fester und blickte verstohlen mehrmals in den Rückspiegel.
"Ihren Revolver habe ich in der Wüste gelassen, Sir."
David reagierte nicht. Der Wagen hatte keine Fenster mehr, so stürmte der Wind das Innere des Wagens laut und bebend, der Motor ratterte, die Straße war unbefestigt, der
Wagen sprang auf und ab.
"Mein Dad hat immer gesagt, dass ich meine Nase nicht in fremde Angelegenheiten stecken soll...", brüllte er, "...aber ich weiß nicht, Sir, Waffen sind nie gut. Ich hoffe Sie sind
mir nicht böse." Die Art des Jungen hatte etwas so Naives, Unschuldiges und Gutgläubiges, dass es David vielleicht früher in seiner Reinheit provoziert und wütend
gemacht hätte. Aber nun, David erinnerte sich inzwischen an alles, brachte es ihn fast zum Lächeln.
"Nein, passt schon. Hatte das Ding eh schon viel zu lange.", sagte er und richtete sich auf.
Der Junge lächelte.
"Mein Name ist José.", sagte er.
"David."
Sie saßen eine geschlagene halbe Stunde da, ohne ein Wort zu sagen, als José, dessen Unbehagen wieder gewichen war, einen Blick nach hinten warf,
David musterte und anscheinend nach Worten suchte.
"Wo soll's hingehen?", fragte er dann.
David hielt inne. Blickte auf die Prärielandschaft, die an ihnen beiden vorbeizog und hatte die Antwort schon längst parat, aber er ließ Zeit verstreichen,
ließ sich Zeit, die Wüste zu mustern und ihre Landschaft auf sein Gemüt wirken zu lassen. Diese Leere, diese unendliche, vollendete Weite....
"Zur nächsten Polizeistation."
José reagierte ein wenig unbeholfen und warf einen langen Blick in den Rückspiegel. David erwiderte den Blick.
"Zur Polizeistation, Sir?"
David blickte wieder aus dem Wagen.
José stellte keine weiteren Fragen. Die restliche Fahrt über sprachen sie kein Wort.


Ende

Pandoram Stream Pt. 2

Der 1. Irrtum

1.
Er war noch immer da.
Die Waffe war nicht losgegangen, der Lauf hatte ihn verschont, und obwohl er sich so sicher gewesen war, dass sein Hirn über den Wüstensand verteilt und sein
Leben beendet würde, saß er reg- und atemlos nach dem Klicken der Waffe da, höchst lebendig, und er fühlte sich seltsam betrogen.
Er klickte ein weiteres Mal, und erneut blieb es still, sein Kopf explodierte nicht.
Bevor ein weiteres Mal den Abzug tätigen konnte, entriss ihm der alte Mann die Waffe und legte sie zurück in seinen Schoss.
So frisch seine Interpretation der Ereignisse war, er hatte sie sofort und zutiefst bereitwillig in sich aufgenommen, er hatte das Gefühl, der ganze Restbestand seiner Existenz hing
an diesem empfindlichen Faden jener Erkenntnisse. Und die folgende, vom Knistern des Feuers unterlegte Stille brachte dieses erkenntnistheoretische Gerüst
zutiefst ins Wanken.
Lag er falsch?
War da keine Scham? Kein naturalistisches, kausales Emporkommen inmitten dieser Wüste?
Er hatte den alten Mann als unverrückbare Instanz anerkannt, wie er da saß, an jenem königlichem Feuer, mit dem silber verchromten Zepter seines tiefen
Verständnisses, als Werkzeug einer Gnade, die ihm zuteil wurde. Er hatte separiert, sein in dieser Wüste gemündetes Schicksal als trotzige, gottlose
und empirische Tatsache anerkannt. Hatte dem kosmischen Gericht eine klare Absage erteilt. Aber die Herkunft des Mannes, die Herkunft der Gnade,
die ihm zuteil wurde, nahm er hin, als hätte der gegeißelte, gehetzte Blinde eine Quelle der Wärme gefunden, und ohne zu hinterfragen würde er sich ihr
hingeben. Wie fadenscheinig, feige und oppurtinistisch diese Denkweise war, wurde ihm nun bewusst, und obwohl er sich selbst dafür vergab, er war
zutiefst verunsichert und fühlte sich zurückgesetzt. Aber der Gedanke, so schnell wie möglich diese Wüste zu verlassen und zu überleben war auf
seltsam selbstverständliche Art und Weise in den Hintergrund gerückt. Die Konfrontation mit dem alten Mann erschien ihm auf intuitiver Basis so viel
wichtiger als das bloße, plumpe Kämpfen ums Überleben.
Halluznierte er womöglich doch?
Stimmte es? War dies eine in seinem Unterbewußtsein organisch herbeigeformte Allegorie, ein Schauplatz eines Gerichtes, so vollkommen auf ihn ausgerichtet,
dass ihre Homogonität als klarstes Indiz ihrer Irrealität herhalten konnte? Er war ratlos, vielleicht dachte er zuviel.
Wie kam er auf diese Gedanken? Was trieb ihn in ihre Arme?
"Du musst wissen...", sprach der alte Mann erneut, "....dass das alles ist, was ich tun kann."
Der alte Mann lud die Waffe plötzlich nach. Nachdem er eine Zeitlang mit gesenktem Kopf geruht hatte, ohne ins Feuer zu starren, hatte er urplötzlich den Revolver
gepackt, wie von einem starken, heftigen Impuls zu einer Handlung gezwungen und holte die Kugeln einzeln aus ihrem Futter hervor. Die Trommel stand offen,
glimmerte im Angesichts der lodernden Flammen vielversprechend und voll ambivalenter prophezeilicher Kraft, und er schob die Kugeln langsam und entschlossen
in die ihnen zugedachten Löcher. Als die Trommel voll war, warf der alte Mann sie zurück und wand sich.
Blickte dem Mann tief in die Augen. Zwischen ihnen lag ein Meter, und er positionierte den Revolver genau zwischen sie beide.
Stille.

2.
"Erschieß mich."
Der Mann zuckte zusammen, als ob ihm diese Worte einen unsichtbaren Schlag verpasst hatten. Diese Welt hatte sein Verständnis für Gnade und die
Interpretation seines Platzes in dieser Wüstenwelt mit diesem Ausspruch des alten Mannes endgültig zerstört. Ihn erschießen? Wie konnte das sein?
War er es nicht, dem diese Kugel galt?
"Erschieß mich, oder ich erschieße dich.", flüsterte der alte Mann, und zum ersten Mal drang so etwas wie eine tiefe, gräßliche Wut durch den Klang
seiner Stimme hindurch. Er war plötzlich mehr als eine konstante, rätselhafte Instanz, auf einmal wirkte er wie ein zutiefst gedemütigter und
unsäglich wütender alter Mann. Seine Augen tränten vor Wut, er ballte die Fäuste und blickte seinem Gegenüber fest in die Augen.
Der Mann stockte. Rang um Worte. "Ich..." Er sah auf den Revolver, blickte zurück zum Alten, Schweiß schoss zwischen seinen Fingern hervor und
rannte über seine Stirn. Er spürte sie, die Angst, der Unglaube, der ihn überkam, als die Hitze seine Kehle hatte explodieren lassen, als der Regen
ihn mit einer Schlammlawine begraben hatte, und der Revolver und die Wut des alten Mannes reihten sich nahtlos in ihre Kette ein. Nicht nur hatte
seine Regel ihn in diese Welt gefüht, vielmehr kannte diese Welt seine Regel, nach der er gelebt hatte, dachte er plötzlich, sie kannte sie viel besser als er selbst,
er, dessen Erinnerungen nur aus Schnipseln, Gerüchen, Bilder- und Wortfetzen bestanden hatte. Er litt unter Amnesie, er lag im ( Koma ), ------>
"jene grinsende Allegorie", flüsterte er, ungläubig blickte er zur Waffe hinunter, er schluckte, Todesangst packte ihn,
"Erschieß mich oder ich erschieße dich..."; zischte der Mann plötzlich in einem inhumanen Tonfall, tief, grollend, er hatte den Eindruck, dass dies nicht mehr
die Stimme des Alten war, es war die Stimme des Feuers, das ihn zugrunde gerichtet hatte, des Regens, der ihn erstickt hatte, es war die Stimme dieser
Wüste, gerichtet an ihn. Er roch Feuerholz, sah dem alten Mann in die Augen,
dachte nicht daran, dass seine Todesangst, seine kümmerliche, gräßliche Furcht die lodernde Wut des alten Mannes besänftigen konnte, aber er
würde sich nicht wehren, weil es seine Bestimmung war, von der Hitze verzehrt, vom Regen ertränkt, von dieser Kugel gerichtet zu werden. Er wusste es,
deswegen hatte er so bereitwillig den Lauf an seine Schläfe gelegt. Die Wahl zwischen Leben und Tod war eine Farce, die Wut des alten Mannes die Zügelpeitsche, die ihn hetzen sollte,
und seine Finger wurden ruhig, sein Puls auch, diese Welt hatte ihn gefangen, ihn an Zyklen der Niederrichtung gefesselt.
Der alte Mann keuchte. Allein der Anblick seines bebenden Zorns vermochte sein Herz zum Stehen zu bringen.
Dann hielt er kurz den Atem an.
Der Mann verstand, dass dies nun seine letzte Chance war.
Er ließ seine Hände ruhen.
Der alte Mann atmete tief und langsam aus, griff zum Revolver, hielt sie auf Kopfhöhe seines Gegenübers, auf die Mitte der Stirn gerichtet.
Er sprach kein weiteres Wort. Brachte keine erklärende Geste hervor. Alles, woraus der Alte nun mehr bestand, war schäumende Wut.
Er drückte ab,
und der Mann spürte für einen unfassbaren Bruchteil einer Sekunde, wie seine Stirnwand einbrach und ein Fremdkörper seine Hirnwindungen
in Fetzen riss. Die Augen hatte er geschlossen, als er vermeintlich aufhörte, zu leben, mehr noch, als seine Existenz von der Wut des alten
Mannes niedergemäht wurde.
Dieser legte die Waffe zurück in seinen Schoss und blickte ausdruckslos in die knisternde Glut. Seine Wut hatte ihn im Moment des Abdrückens
augenblicklich verlassen und ließ den Ausdruck des gedemütigten, geprügelten Köters zurück, das schimmernde, gräuliche Morgenblau jedoch
blieb.


Der 2. Irrtum

1.
Er keuchte.
Erneut auferstanden. Er blieb liegen. Starrte ins Wolkengrau, rührte sich nicht. Er wusste nicht, ob er überrascht sein sollte. Vielleicht wütend. Was auch immer
angesichts seiner erneuten Wiederauferstehung angemessen wäre, er ließ es ausbleiben, der Phönix ging über in ein Stadium vollkommener Apathie. Jede Bewegung
war überflüssig, sinnlos, ihres Zweckes beraubt worden. Zurückgesetzt war er, der Phönix. Nur das Knistern des Feuers hallte in seinem Kopf wider, und als er die
Augen schloß spürte er plötzlich, dass die Anwesenheit des alten Mannes der Vergangenheit angehörte. Er war alleine, das wusste er. Nur er und das Feuer.
Langsam richtete er sich auf, fuhr sich durch seine Mähne. Sand rannte seine Schlefen hinunter, er spürte die Stoppeln in seinem Gesicht, die Trockenheit
seiner Haut. Vorsichtig berührte er seine Stirn.
Keine Wunde, nichts.
Ein etwaiges Funkeln erhaschte plötzlich seine Aufmerksamkeit. Der Revolver lag an der Stelle, wo der alte Mann gesessen hatte. Halb eingegraben, als
wäre sie von ihrem alten Besitzer in befreiter Zuversicht zurückgelassen worden, als stelle sie eine symbolische Last dar, derer man sich entledigen musste.
Aber für ihn war sie nun der einzige greifbare Gegenstand, der einzige materielle Bezug, den er hatte abseits stringenter Domänen der Trockenheit und Endlosigkeit.
Der Himmel hatte sich unmerklich verdunkelt. Der Eindruck eines in die Länge gezogenen, träumerischen Morgengrauens war dem Eindruck einer endzeitlichen
Dämmerung gewichen. Wieder grollte der Himmel hier und da, aber er, der Zurückgelassene, wusste mit absoluter Bestimmtheit, dass diesmal kein Regen fallen würde.
Er nahm den Revolver an sich, aus irgend einem Grund erhob er sich. Seine Knochen waren schwer, er war müde, als hätte er zu lange geschlafen und nicht als
hätte ein alter Mann just gerade sein Hirn mit einer Kugel aus diesem Revolver zerfetzt. Plötzlich überkam es ihn, er wollte auf Nummer sicher gehen
und öffnete die Trommel. Eine Kugel fehlte. Er war seltsam beruhigt.
Er ging ein paar Schritte, den Halfter der Waffe mit seinen schlaffen Fingern umschlossen und blickte um sich. Wo auch immer er war, das Feuer musste
so etwas wie einen Linchpin, einen Kernpunkt dieser Welt darstellen. Von hier aus konnte er die Ferne dieser Wüste besser begreifen. Nie würde es ihm
in den Sinn kommen, seine Kraft zu mobilisieren und loszulaufen. Er hatte verstanden, dass diese Wüste kein Ende hatte. Ohne den konkreten Gedanken
durchlaufen zu haben, hatte er seine Zweifel an diesen Ort, an seine Bedeutung revidiert. Er musste halluzinieren, musste in einer Schleife der Wahrnehmung geraten sein,
aber sein Glaube daran, dass er an diesen Ort gehörte, war nun unerschütterlich. Der alte Mann hatte sein Urteil gesprochen und war gegangen.
Es sei denn.....
Plötzlich hielt er inne. Warf einen Blick zurück auf die Feuerstelle, dessen Flammen zu keiner Sekunde schwächer zu züngeln schienen. Ein ungeheuerlicher Gedanke
überkam ihn, als er an die Wut, an die Verzweiflung des alten Mannes zurückdachte. Wie wenig er sich diese im Grunde erklären konnte.
Er war davon ausgegangen, ihn als ihm zugewiesene Instanz zu verstehen, die jene
deterministische Analogie zum gehetzten Tier herstellen sollte und ihn mit einer Erkenntnis füllen sollte, die ihn ewig an diese Wüste zu binden hatte. Er hatte
gespürt und angenommen, das Warum seiner dunklen Nichtigkeit überlassen und sich der Kugel gefügt, und bei all dem war er davon ausgegangen, dass
dieser Ort seltsam auf ihn ausgemünzt war. Er hatte jene gräßliche, unerträgliche Scham in sich selbst erkannt und in ihr ein Schlüsselerlebnis gehabt,
das finale Gefühl, das sein Schicksal vollendete und ihn hinnehmen ließ, an diesem Ort verbannt zu sein.
Auch wenn er nicht verstand, woher die Scham stammte, es spielte für ihn keine Rolle. Er nahm hin.
Aber plötzlich...plötzlich sah er das Gesicht des alten Mannes vor sich, diese gräßliche unerträgliche Qual in seinen Augen, diese Müdigkeit, die hervorkam,
nachdem diese stoische Unnahbarkeit weggebrochen war.
Es ging um diesen Ort.
Das Gefühl, eine bedeutsame Erkenntnis zu haben, war inzwischen seltsam dialektisch, aber diesmal fühlte es sich ungeheuerlich an.
Der alte Mann hatte ihn betrogen.
Die leere Feuerstelle, deren Flammen den Gezeiten der stagnierenden Fäulnis dieser Wüste getrotzt hatten, sprachen plötzlich Bände. Er und der alte Mann
hatten keine Verbindung, hatten nie eine gehabt! Wie er selbst, musste auch der alte Mann an diesem Ort gefesselt sein, wahrscheinlich so viel länger als er...
daher der Wahnsinn, die Verzweiflung in seinen Augen, dieses Meer aus Trauer und Unzuversicht, in dem sein Blick badete, dieses väterliche, gutheißende
Lächeln um seinen Lippen hatte er selbst, der Zurückgelassene, falsch ausgelegt, es war eine pure Erleichterung! Ein Ausdruck ewig herbeigesehnter Erlösung! Der alte Mann hatte auf
ihn gewartet, aber nicht, um mit ihm eine tiefe Wahrheit zu teilen, sondern weil der alte Mann wusste, dass er sein einziger Schlüssel war, diesen Ort
zu verlassen!
Die Feuerstelle war leer. Die Wüste war unendlich. Und wenn er nicht irgendwo begraben unter einem Sandteppich lag, aus unerfindlichen Gründen
erneut gestrandet in der Wüste, dann war er nicht mehr hier, er hatte die Wüste verlassen, und als der Zurückgelassene diesen Gedanken zu Ende
führte, stolperte sein Herz und ihm wurde plötzlich bewusst,
dass er mit dem alten Mann den Platz getauscht hatte.
Ein ungeheures Zittern erfasste seinen Körper, er ließ den Revolver fallen...
Wie konnte ich nur so töricht sein.......
Es hatte keine kausale, naturalistische Konsequenz seiner Lebensregel gegeben. Es hatte nie eine materialisierte Allegorie oder gar ein Strafgericht gegeben, nein
dieser Ort ruhte in sich selbst und kristallisierte sein glimmerndes Dämmerungslicht niemals um die Seelen der in ihr Gestrandeten herum, diese
Unendlichkeit wurde nicht um das Bewußtsein herum errichtet, sondern dieser Ort existierte um seiner selbst willen! Es war eine düstere, unbegreifliche Dimension,
die Gestrandete verschlang und mit ihnen spielte und keine vom Schmerz und Schicksal einer Seele abhängige, unterbewusst zuammengeschusterte Allegorie.
Eine unabhängige Dimension mit eigenen Regeln, mit einem Selbstzweck! Und der alte Mann musste das verstanden haben, und er musste auch verstanden haben,
dass der einzige Ausweg aus diesem Ort in der Macht des Revolvers lag, vielleicht war ihm das gleiche widerfahren, vielleicht war er selbst ein Glied in einer
bereits ewigen Kette der Gestrandeten, die aufeinander trafen und den Revolver, den Tod und das Gefängnis dieser morbiden Wüste aneinander weiter reichten,
ein Staffetenlauf der Ewigkeit, eingeführt für einen selbst durch das Ritual der Reinigung, durch Hitze und Feuer, und durch Kälte und Wasser...es musste so sein!
Wie kann es sein, dass er nicht durstete? Dass er die Hitze, die Kälte, die Kugel überlebte? Dafür konnte es keine natürliche Erklärung geben, das war nicht sein
Körper, er sah durch die Augen seiner Seele, die in einem Höllenkreis gefangen war, irgendwo verlaufen in der Hierarchie des Jenseits, an einem Ort gebunden,
der sich einen Dreck um seine Geschichte scherte, alles und jeden in sich aufnahm, der unglücklich genug war, in ihre Fängen zu geraten...wie auch immer ihm das
widerfahren war...und der alte Mann hatte ihn an seine Stelle gesetzt, indem er ihn erschossen hatte.
Daher der Ausspruch, es sei alles, was er tun konnte. Beiweilen, niemandem konnte wohl bei dem Gedanken sein, jemandem eine ewige Einsamkeit aufzubürden,
auch wenn die eigene Erlösung damit einher ging.
Eine ungeheure Müdigkeit erfasste ihn. Als er sich das Lächeln des alten Mannes in einer hektischen Bildsequenz nochmal vor Augen führte, lösten sich seine
Kräfte, und er brach zusammen.



David

1.
Es hatte nicht viel gefehlt. Das heißt mitunter, nicht viel Zeit, und er verlernte, zu sprechen. Anfangs hatte er sich damit begnügt, Hoffnungen aus den Litaneien
zu schöpfen, die er direkt an die Wüste gerichtet hatte. Prosaische Eskapaden, aus einer schwer zu erklärenden Intension heraus ästhetisch zusammengefügt
und einem Reimschema unterworfen. Vielleicht wollte er der Wüste schmeicheln, denn er hatte schon längst die Grenze zur Personifikation überschritten,
grub er seine Hände in den Sand, hatte er das Gefühl, in den Eingeweiden eines unermeßlich großen Organismus zu wühlen. Er hatte Löcher gegraben, metertief,
mit seinen bloßen Händen, den Revolver stets zwischen Gürtel und Hose geklemmt, einmal geriet er so tief in den Geweiden der Wüste, dass er tagelang Mühe hatte,
aus dem Loch herauszukommen. Hin und wieder regnete es leicht, aber nie so stark, dass das Knistern der Flammen irgendwie beeinträchtigt werden könnte.
In jenen Stunden, als er in der Grube verharrte, schaffte er es, kurzzeitig erstaunlich klar zu denken, vielleicht, weil ihm der Anblick der Weite erspart blieb. In diesen
Momenten begnügte er sich damit, sein Gesicht zu betasten, er legte seine Kleider ab, befühlte seinen Körper, spürte, wie die Zeit ihn ausmergelte. Seine Kehle und
sein Magen blieben stumm, aber der Körper litt wie unter einem stark verlangsamten, aber unaufhörlichem Prozess der Fäulnis, den er nicht aufhalten konnte und der
ein etwaiges, zwar ungeheuer qualvolles aber immerhin mögliches Ende in Aussicht stellte.

Er befühlte sein Gesicht, den wachsenden Bart, die langen Haare, umfasste die dürren Ärmchen, streichelte die eingefallenen Wangen. Sein Glied erschien ihm
wie ein fremdartiges, disfunktionales Ungeheuer, das den Prozess des Niedergangs am ehesten widerspiegelte, seine Hände waren zerschlissene, von tausend Falten
und Wunden überzogene Krallen, bisweilen verkrüppelt durch die schief zusammengewachsenen Brüche, die er sich einholte, als er, manisch und besessen vom
Gedanken, der Wüste mit dem Graben des Loches Schmerz zufügen zu können auf Steine traf. Auch in diesen Momenten wich er weinend zurück, als hätte die
Wüste ihm eine schallende Ohrfeige verpasst.

Einmal erwachte er aus seinem Halbschlaf, weil er sicher war, zu hören, wie sich zwei Wüstenkatzen über die Prärie hinweg jagten. Er sah ihre Silhouetten in der Dunkelheit,
rannte wie von Sinnen auf sie zu, doch der Sprint hatte ihn wach gemacht, und mit einem Schlag, obwohl ihr Fauchen noch nachhallte, glotzte ihn die ewige Dunkelheit
verwundert an und von den Katzen fehlte jede Spur. Er sah eine in der Luft schwebende Kette aus sechs metallenen Kugeln, die sich zu verschiedenen geometrischen Formen
und Raumvariationen zusammenfügten und ihn zwei Wochen lang verfolgten. Sie gaben ein konstantes, leises Summen von sich und schienen, obwohl bis auf dem Feuer keine
andere Lichtquelle vorhanden war, ein silbernes, flackerndes Licht zu reflektieren. Erst war er vehement geflohen, aber er ertrug es nicht sonderlich lange, vom Feuer getrennt zu sein,
denn die Feuerstelle war die einzige Quelle von Licht und Wärme, die er hatte, und desto mehr er sich von ihr entfernte, desto mehr spürte er, wie unsäglich kalt die
Wüste geworden war, wie unsäglich dunkel sie war, wie der unmittelbar anstehende Anbruch der Nacht. Irgendwann fasste er allen vorhandenen Mut und berührte eine der Kugeln,
worauf die gesamte Formation zu Quecksilber schmolz und im Wüstensand verrannte. Der Anblick der zerfließenden Kugeln wiederrum brach ihm aus einem ihm unerfindlichen
Grund das Herz, schlagartig hatte er das Gefühl, in den anfänglichen Schock und der Unfähigkeit, zu akzeptieren, zurückversetzt worden zu sein, und er weinte
bitterlich mehrere Tage am Stück. Als er dann irgendwann, erschöpft und innerlich zersetzt, einschlief, träumte er, klarer und deutlicher als je zuvor.


"David, komm da runter. SOFORT!"
Ich kann sie sehen. Die blöde Tante. Meine Finger hält sie da immer drinnen, wo sie das Brot backt. Aber ich hab keine Angst. Ich kann ihn sehen,
den Traktor, vom Onkel. Der schaut die Tante immer an, als wolle er sie beißen, aber mich beißt er auch. Ich komm von hier nicht runter, das ist ein
Baum, und der ist rot, und er ist mir. Ich will hier nicht mehr sein, aber sie zwingen mich. Eines Tages werd ich von hier fortgehen, und ich werde
Papa finden, ich werde Mama finden, ich werde ganz unhöflich sein, so wie die dunklen Muskelmänner, die die Tante immer bezahlt, damit
sie den Garten machen ( Die Tante hat den größten Garten, den ich JE gesehen habe ), und ich werde ihre Finger da rein halten, wo man Brot backt.
So wie es die Tante mit mir macht. Alle haben viel, und ich will auch was davon haben, die Tante sagt, der Baum gehöre mir nicht, jetzt
brüllt sie, dass sie mir weh tun wird, wenn ich nicht sofort runterkomme, aber die Tante ist so blöd, die weiß gar nix, dass mir der Wald mir den
Baum geschenkt hat. Mein eigener, roter Baum, und die Tante wird schon sehen, blöd gucken wird se, wenn ich ihr auch die Finger da rein halte,
wo sie das Brot macht, bis die Finger rot werden.


2.
Vielleicht war es das schönste, was er je gesehen hatte. Dass es zumindest das schönste war, was er seit seiner Ankunft in der Wüste gesehen
hatte, dessen war er sich sicher.
Der majestätische Stamm des Baumes ragte aus dem Feuer wie eine in Urglut geborene Lotusblüte und überragte alles. Der Stamm entsprang
der tiefen Glut und hatte ihre Farbe angenommen, jenes pulsierende, feurige Rot. Auf dem makellosen Verlauf der dicken, undurchdringlichen
Rinde wuchsen Äste aus gerötetem Fleisch, die wie Arme aussahen, gesprenkelt und mit erhitztem Wunderschorf übersät, wie abgesprengte
Gliedmaßen sahen sie aus, und die Finger waren schlaff und leblos. Oben auf dem Stamm saß die vom plötzlich starken Wind erfasste
Baumkrone, ein glutrotes, volles Blätterwerk und die ganze, überragende Haltung des Baumes schien ihn zu grüßen, den Zurückgelassenen,
wie bei einer Ankunft nach langer, beschwerlicher Reise.
Er griff mit seinen Händen nach der makellosen Rinde, beugte sich über das Feuer und ließ sich von den züngelnden Flammen verletzen. Er
berührte die Rinde und fing an zu stöhnen, spürte, dass der Baum leicht vibrierte und diese leichte, unmerkliche Schwingung auf seinen
Körper überging und eine leichte Erregung hervorrief. Sie war nicht sexuell, viel mehr ein starker Schauer, ein erbarmungswürdiger,
frischer Hauch von Bewegung und Wärme, der seinen Körper durchströmte und ihn breit grinsen ließ.
Plötzlich erzitterte der Baum, erschrocken wich er zurück und musste nun mitansehen, wie die Flammen in die Höhe schossen und das
Blätterwerk erfassten. Mit einem Schlag loderte der Baum auf, fing an zu glühen und wie eine grelle, anschwellende Sonne aufzugehen,
die Hitze drang den Zurückgelassenen zurück und entlockte ihm ein verzweifelt gehauchtes "Nein....", eine bitterliche Geste der Ablehnung
des Unvermeidlichen. Erschrocken und geblendet, von unsäglicher Hitze erfasst versuchte er sich zu schützen und gleichzeitig eine Möglichkeit
zu finden, das Lodern dieser Flammen zu unterbinden, den Tod dieses Baumes zu verhindern.
Er schlug mit seiner alten Jacke auf die Flammen ein, aber es war hoffnungslos. Mit tränenüberströmtem Gesicht musste er letzten Endes
zurückweichen, um nicht von der Gewalt des Zusammenbruchs erfasst zu werden, als der Stamm des Baumes plötzlich einknickte,
unzählige grelle Funken in die Höhe schossen und das Blätterwerk in einer einzigen reißerischen Bewegung von der Krone losgelöst und
nahezu einheitlich vom Wind in die Ferne getragen wurde. Als hinge sein ganzes Herz an diesem Baum, lag er nun in sicherer Ferne
zu dem Schauspiel auf den Knieen und brüllte unentwegt, als könne er damit der Zerstörung des Baumes etwas entgegensetzen.
Aber ehe er sich versah, war das Schauspiel vorbei, ein paar letzte Funken stiegen in die Höhe, das erloschene Blätterwerk verlor sich in der
Ferne und der eingebrochene, einst so majestätische Stamm heizte den Flammen ein. Der Baum war tot, der Blick des Zurückgelassenen
von einer schleierhaften, unergründlichen Leere beseelt.
Fassungslos starrte er auf die Flammen.

Wenige Sekunden später war er auf dem Weg durch die Wüste. Er rannte. Den Revolver hatte er bei sich, er hatte sich seit seinem Tod
durch den alten Mann zu keinem Zeitpunkt von ihm getrennt. Vielleicht, weil es das einzige war, was ihm geblieben war
und eine gewisse, schleierhafte Verheißung von ihm ausging. Aber das spielte keine Rolle mehr. Er würde die Wüste herausfordern,
würde soweit er konnte sich vom Feuer entfernen, das sich nun auf eine ihm unerklärliche Art und Weise rein intuitiv, auf eine
archaisch empfundenen Ebene als ein Wolf im Schafspelz, ein perfider Freund offenbarte, der einen unverzeihlichen
Verrat begangen hatte.
Also rannte er. Rannte soweit er konnte, bis das Feuer nur noch ein zu erahnendes, schwaches Funkeln in der Ferne war. Sein Körper
brannte und knirschte unter der Anstrengung des Rennens, und alsbald musste er aufgeben und sich mit einem langsamen, aber
nicht weniger entschlossenen Trott zufrieden geben. Ihm kam es vor, als er über die einheitliche Wüstenebnung schritt, die keine
nennenswerte Erhebungen oder Senkungen beinhaltete, als sei er Wochen in vollkommener Dunkelheit gelaufen. Kein Stern
am Himmel, hier und da fiel leichter Nieselregen und inzwischen war das Feuer hinter ihm nicht mehr auszumachen. Es war zu einem
kleinen, nicht mehr wahrnehmbarem Funkeln zusammengeschrumpft, und als er das registrierte, wie weit er den Linchpin dieser
Welt hinter sich gelassen hatte, überkam ihn das erste Mal seit einer empfundenen Ewigkeit ein Gefühl von Stärke, Macht und
Selbstbestimmtheit. Diese Welt musste ein Ende haben. So etwas wie Grenzenlosigkeit gab es nicht, und er würde die Grenzen
dieser Wüste ausfindig machen, und wenn er ewig laufen musste. Zu lange hatte er sich damit abgefunden, an diese Welt gekettet
zu sein wie ein bemitleidenswerter, vollkommen entwürdigter Köter. Zu lange. Er dachte an das Lächeln des alten Mannes, rief
es in Erinnerung, gedachte seiner Worte und flüsterte sie langsam vor sich her...."...ein gehetztes, gepeinigtes Tier...."

Es war perfekt gelaufen. Kollateralschaden mitinbegriffen, aber der König durfte nun in seinem blauen Dunst weilen, das Falsett
bedienen lassen, das jene unverblümte Melodie des Sieges über die Staatsgewalt hervorbrachte. Diese Wichser. Was hatten wir im Vorfeld,
geplant, durchdacht, kalkuliert und an Risiken mit einbezogen, und alles war gut gegangen, zwei Cops mussten leider den Löffel
abgeben, was solls, wir sind reiche Männer. Ich hatte eigentlich nicht damit gerechnet, dass die Geschichte gut geht. Es war
zu riskant, zu....hirnrissig, aber Kristof hatte die Sache minutiös geplant, und was soll ich sagen, ich ging da rein mit ner
gewissen Todessehnsucht und kam heraus als reicher Mann, man muss sich sein verdammtes Glück eben nehmen, wenn die
nicht damit rausrücken wollen. Diese verfickten Hurenbastarde. Das hatten sie davon. Das hatten sie alle davon. Kristof's
Lachkrampf hat endlich aufgehört, die Pfeife geht rum und wir zischen über die Interstate, ich bin endlich frei. Der Hunger,
die Jahre der Verachtung, der Ausgrenzung waren vorbei, endlich hatte ich die Mittel, mir zu nehmen, was ich wollte. Ich
war endlich mein eigener Herr. Ich würde mir das erste Mal Geltung verschaffen.

Montag, 28. Juli 2008

Pandoram Stream Pt. 1

Feuer

1.
Der Himmel erstrahlte makellos in dem vollkommensten Blau, dem er je beiwohnen durfte. Nirgendwo war eine Wolke zu sehen,
nur weit hinter ihm, das Ende des Horizonts küssend ein weißgraues, kilometerhohes Gehäuse aus Watte und weißem, aufgeblasenen
Himmelsstoff, und direkt über ihm, die haloeske Mutter, grell, lodernd und mit ihren Feuerzungen ziellos um sich schlagend.
Er konnte sich nicht erinnern, wie er an diesen Ort gekommen war.
Aber das war sein geringstes Problem.
Es war so heiß,
so trocken, das er sich nun endgültig nicht mehr auf seinen Füßen halten konnte. Er atmete tief ein, automatisiert und seltsam unbewusst
fuhr seine Hand an seinen Hals, betastete, fühlte das aufgedunsene, trockene Fleisch, den unregelmäßigen Puls,
er schluckte, dann fiel er auf die Knie und grub die Hände tief in den Sand.
Die Wüste war endlos.
Er konnte sich nicht besinnen, keinen klaren Gedanken fassen. Wie kam er hier her? So sehr sich sein
benebelter Verstand um Festigkeit, um Gegenwart bemühte, es blieb nur bei einem Ahnen, einem Erträumen einer Welt, die am Fuße dieser Wüste
lag, von der er stammte, und deren Wogen und Wellen ihn diesem majestätischen, trockenen Rachen ausgeliefert hatten. Seine Gedanken
expandierten in die Breite, ohne an Festigkeit zu gewinnen, er schloss die Augen und sah eine tänzerische, hektische Melange,
zusammenhangslos und gebrochen in ihrem Fluß, und er erkannte, dass dies sein Ende war, unrühmlich, grausam.
Er versah seine letzten Kräfte mit einem gedanklichen Fatalismus, der alles aus ihm rausholen sollte, er kämpfte dagegen an, das Bewußtsein
zu verlieren, als sich dieser große Schatten über ihn legte, und er hob den Kopf, geblendet von der Sonne und erblickte ein Ross, gewaltig,
mit anmutigem, pechschwarzem Fell und pupillenlosen, schneeweißen Augenhöhlen. Es schnaubte, wütend und entschlossen, trat aus, in
Zaum gehalten von der Frau, die auf dem Pferd saß und auf den Verirrten hinabblickte, ausdruckslos und erhaben. Der Verirrte
erkannte, dass sie etwas in den Armen hielt, es schien ein Kind zu sein, ein stiller, von der Hitze ungequälter Säugling, und er hob die Hand,
weil er kein Wort rauskriegen konnte, eine verkrampfte, schmerzvolle Geste ein Bitte Hilf mir ich sterbe, ein Gnadengeleit. Aber die Frau
blieb kalt, und der Verirrte hat das untrügliche Gefühl, sie zu kennen, sie sehr gut zu kennen, und plötzlich stieg sie vom Pferd herab und
näherte sich ihm. Durch den wässrigen Schleier erkannte er, dass sie übel mitgenommen schien, ihr Gesicht war überzogen mit blauen
Flecken, und just fing auch der Säugling an zu schreien. Die Frau bemühte sich gar nicht, das Kind zu besänftigen, und so explodierte das
Geschrei im Kopf des Verirrten und wurde nach einer unerträglichen Minute von der sanften Zusprache der Frau ergänzt.
"Hier gehörst du hin.
Von Anfang an hast du hier her gehört."
Sie beugte sich vor, küsste seine Stirn und sah ihm tief in die Augen.
"Ich hoffe, du leidest, mein Liebster."
Er wand sich, jammend, lachend, Er konnte den Anblick der Frau und des Kindes nicht ertragen, sie jagten ihm eine Urangst ein, die sich zu einer unerträglichen Scham aufblähte
und ihn zitternd von den beiden wegkriechen ließ. Er konnte nicht sagen, ob er sie kannte, konnte nicht sagen, wie er zu ihnen stand, wer er selbst war, er bestand nur
noch aus Knochen, Blut und jenem zusammenhangslosen Film, der in ihm toste, und so wand er sich, griff nach der letzten verbliebenen Wolke wie ein um Geleit bemühtes Kleinkind.

2.
Die Frequenz der Bilder nahm zu.
Die Stimmen wurden
heftiger, jegliches Gefühl entwich seinem Körper und seine Seele, seine Seele jagte aufgeregt das letzte Restgefühl in diese Fingerspitzen, die nach der
Wolke griffen. In der Kulmination seines Restvermögens auf diese vier Quadratzentimeter bestand er nur noch aus dieser einen Geste und ihrem zugrunde liegenden,
ozeanischem Vereinigungswillen, und als er Geleit gefunden hatte, waren die Frau, das Kind und das Ross verschwunden, und er war mutterseelenallein,
beruhigt und im Geiste stieg er zu der Häme der Wolken auf, vereinigte sich mit ihrem reinen Himmelsstoff, wurde zu einer Idee, einem Ausblick,
einer Rohform, die ihr Antlitz mit dem Drehen und Wenden des Windes veränderte.

Dann durchzuckte ein heftiger Schmerz seine Beine, die Dehydrierung kam zu ihrem Ende. Ein Schwall hellroten Blutes explodierte in
seiner Kehle, plätscherte auf Kinn und Hals nieder, der linke Arme vibrierte unter unsäglichem Druck und bog knirschend die Knochen. Sein Herz pumpte
in langen Abständen das Restblut in sein Hirn und gab ihm genug Wahrnehmungskraft für das Erschlaffen seiner restlichen Muskel. Sein Magen verkrampfte
sich unsäglich und seine Blase entleerte sich. Vollgepisst und blutbesudelt griff der Verirrte sodann ein letztes Mal nach der Wolke. Dann dampfte seine
Iris aus, das charakteristische Hellblau verblich und hinterließ eine graue vernarbte Landschaft. Die deutenden Finger erschlafften, der Mann
war tot und das Sandmeer begann mit seinem leisen, unbemerkten Begräbnis.

Wasser

1.
Etwas änderte sich an der Konsistenz des Sandes.
Das bemerkte er als erstes. Noch bevor ihm klar wurde, dass er bei Bewußtsein war.
Dann rannte ihm eine aufgeweichte Sandsalve in den Mund,
und erst als das Husten und um Luft schnappen seinen Körper packte und schüttelte, er mit wedelnden Armen um sich schlug, bemerkte er,
dass er vollkommen bei sich war. Dass er jede Faser seines Körpers spüren konnte. Er erhob sich, schob den aufgeweichten Sand von sich
und lugste alsbald aus seinem aufgeweichten Sandgrab hervor. Er hatte noch den Auftakt seines Begräbnisses bei Hitze und Feuer blutgurgelnd mitbekommen, gespürt,
wie der irrsinnige, gebrochene Film seine Seele aus dem Körper gedrängt hatte und zu ihrem Korrelat geworden war. Brabbelnd und stolpernd, sich kaum auf den Beinen
haltend kam er nun an die Luft, und
spürte den bitterkalten Regen, spürte die Schwingen dieser vollkommenen Nacht, die sich um ihn legten.
Er stand auf und rannte blindlings zwanzig Meter, getrieben und gejagt von der Unbegreiflichkeit des Diesseits.
Er erinnerte sich an die Wolke. An sein kochendes Blut, an das Ross, die Frau, das Geplärre. Er entsann sich wirr und keuchend, er wusste: Ich bin gestorben. Und dennoch tragen mich
diese Füße just gerade durch diese Wüste bei Nacht. Angestrengt blickte er nach oben, auf der Suche nach einer Lichtquelle oder einer anderen Orientierung.
Aber der Regenschleier war dicht, mit den Augen nicht zu durchdringen. Außer einer dunkelblauen, dämmrigen Einfärbung, die sich am Horizontgürtel
erahnen ließ war er vollkommen eingeschlossen in diesem peitschenden, von allen Richtungen auf ihn niederprasselnden Regen, und seine spärliche Kleidung,
zerfledderte, bereits vollkommen durchnässte Jeans, ein graues Shirt und eine Lederjacke vermochten ihm kaum Schutz vor der aufkommenden, ungemein
bitteren Kälte zu geben.

2.
Er rieb sich die Arme, versuchte bei sich zu bleiben, die Welt hinter den geschlossenen Augenlidern
zu stabilisieren, Bilder zu fixieren, Dinge, die ihm inmitten des Sturmes als hilfreiches Menetekel den Weg durch die Korridore weisen sollten. Er besann sich,
setzte einen Schritt vor den nächsten. Er musste in Bewegung bleiben, anderweitig würde ihn diese aufbäumende Kälte umbringen. Er hatte nicht die Kraft,
nicht die Weitsicht und den Mut, inmitten seiner Schritte seine Erinnerungen zu ordnen, wie er hier hin kam, ob er wirklich gestorben war, ob er halluzinierte. Er
erfasste nur die bitterliche Kälte, den peitschenden Regen und wie diese Elemente ihn der Welt der Lebenden zu entreißen drohten,
als sich plötzlich zwei starke Hände um seinen Hals legten und fest zupackten.
Jemand warf sich auf ihn, versuchte ihn zu würgen, verpasste ihm wütende, brutale Schläge ins Gesicht, versuchte ihn wieder zu würgen, zu treten, ihn
schlichtweg umzubringen. Der Verirrte schlug wild um sich, versuchte den entschlossenen Pranken etwas entgegenzusetzen und schnappte keuchend nach Luft.
"Du hast uns alleine verlassen, Gott verdammt! Du elendiger Bastard, du Mistkerl!!!", brüllte die Person, und für einen kurzen Augenblick konnte der Verirrte
inmitten eines Blitzes das Gesicht seines vermeintlichen Peinigers ausmachen, es war ein junges, von einer langen blonden Mähne gesäumtes Gesicht,
und es lag ein Ausdruck unbremsbaren Hasses in diesem Gesicht. Der Verirrte jedoch war noch nicht bereit zu sterben, er würde diesem wahnsinnigen Alptraum
nicht kampflos erliegen, also holte er aus, verpasste der Gestalt einen heftigen Schlag auf die Schlefe. Brüllend fiel die Person von ihm, und der Verirrte stürzte
sich sofort auf sich, entschlossen, den kurzen Vorteil auszunutzen.
Er holte aus, brach dem blonden Mann vielleicht die Nase, und legte mehrmals nach, ehe er ihn am Kragen packte und irrsinnig schüttelte.
Das Gesicht des Angreifers erschlaffte, das kantige, scharf geschnittene Gesicht wurde von einer vermeintlichen Erschöpfung eingepfärcht, Blut schoss aus der Nase, der braune, rauhe
Teint und die hellen Augen ließen vermuten, dass er Australier war, die vielen Narben im Gesicht wiesen auf ein Outlaw-Dasein hin. Der Verirrte legte einen
weiteren Schlag nach.
"Wo bin ich?!"
"Du hast ihnen meinen Namen gegeben, nicht wahr!? Du hast ihnen gesagt: Kristof hat das ganze initiiert, und
dann haben sie dich gehen lassen, ist es nicht so?!"
Der Verirrte hatte keinen blassen Schimmer, wovon sein Angreifer sprach.
Aber plötzlich verpasste ihm dieser eine so heftige Kopfnuss, dass der Verirrte betäubt von Schmerz von ihm runterrollen musste.
Entgegen seiner Erwartung griff ihn der Mann nicht noch einmal an. Er machte sich an, im tiefen Regenschleier zu verschwinden, hielt jedoch kurz inne
und brüllte:
"Hier gehörst du hin! Hier hast du von Anfang an hin gehört!!"
Der Verirrte konnte noch einen letzten flüchtigen Ausblick auf seinen Angreifer erhaschen, ehe dessen Silhouette vom Regenschleier verschlungen wurde.

Vielleicht würde der Regen und die Kälte niemals aufhören, vielleicht war er in zyklischen Novelle einer ewigen Wiederkehr gefangen, vielleicht
war er das Opfer eines perfiden Streiches, oder er lag im Koma und brach innerlich entzwei, seine Seele gespannt und geknebelt im Spannungsfeld von Kälte und Hitze,
verdammt dazu, ewig aufs Neue zu sterben.
Was auch immer passierte, er stand auf den Beinen und trottete vor sich her, getrieben, gepeitscht vom Regen und noch immer nicht ganz erholt vom Angriff. Lange
konnte er sich jedoch nichts vormachen. Ihm war klar, dass sein Körper seine Kräfte aufgebraucht hatte. Er hatte die Augen schon längst geschlossen, sein Körperempfinden
war vollkommen betäubt und einzig der rohe, panisch motivierte Wille, unter keinen Umständen stehen zu bleiben ließen ihn einen Fuß vor den anderen setzen.
Als er mehrere hundert Meter gelaufen war, die Schritte immer langsamer, die Augenlider immer schwerer wurden, packte ihn
der dumpfe, verlautbare Ruf der Müdigkeit und zog ihn in die Tiefe. Seine Beine gaben nach, er fiel nach vorne. Der Himmel komplementierte ein letztes Mal mit Donner
und einem achtlos über ihn hinweg ziehenden Windhauch. Er weinte noch, als sein Gemüt sich verdunkelte, dann krümmte er sich mit letzter Kraft zusammen und ergab
sich achtlos der Sandlawine, die über ihn hinwegfegte.




Der Mann

1.
Irgend etwas in ihm musste in der kurzen Zeit seines Dämmerungszustandes gekämpft haben. Ein heroischer, archaischer Überlebenswille, der seine Kräfte
wie elektrische Schläge durch seinen Körper gejagt hatte und ihn effizient seine verbleibenden Kräfte nutzen ließ.
Dieses etwas, dieses verzwickte und verzweifelte, aus der Fötusstellung seiner Aufgabe heraus nach dem Leben greifen hatte ihn davor bewahrt, endgültig im
Sande zu verschwinden, und ihn mit langsamen, unglaublich kraftaufwendigen Bewegungen immer wieder aus dem Sand kriechen lassen, als er zu ersticken drohte.
Die Kälte hatte seine Knochen und sein Fleisch mit einem empfindlichen, eisigen Film überdeckt, aber kurz bevor sein Herz die Last der Kälte und der Verzweiflung
nicht mehr zu tragen vermochte, erlosch der Regentanz in einem letzten, kaum vernehmbaren Donnern. Der Himmel grollte ein letztes Mal, lautlose Blitze und ein
erbarmungswürdiges Nieseln blieben zurück.

Der junge Mann blieb jedoch noch eine Zeit lang liegen. Unfähig sich zu bewegen, ermüdet, hungrig und gequält drehte er sich jammernd auf die Seite und erblickte das Panorama
einer endlosen Wüste beim Anbruch des Morgengrauens. Ein graublauer Farbfilm vereinnahmte Sand, Wolken und Firmament, tauchte diese Welt in ein
träumerisches, plötzlich endlos ruhiges Abziehbild eines vieldeutigen, vibrierenden Traumes. So göttlich ihm die Fügung erschien, die den Regen hatte enden lassen,
so unverhofft meldete sich die Stimme der Vernunft beim Anblick dieses endlosen Panoramas, die ihm unmißverständlich klar machte, dass er nie und nimmer soweit regenerieren
könnte, um diese Welt hier in einem langen Marsch hinter sich zu lassen. Er hatte kein Wasser, keine Nahrung dabei, und sein Körper war bereits vollkommen ausgelaugt.
Der Ausblick dieser erbarmungslosen Weite hielt ihn gefangen. Drückte ihn zu Boden.
Einzelne Tropfen fielen noch immer und ein leichter, warmer Wind bließ, fuhr ihm zärtlich durch die Haare, eine Willkommensgeste einer Welt, die ihren Linchpin
in ihm gefunden hatte.

So blieb er liegen, die aufgerissenen, erkalteten Augen schwebten in der Leere. Nirgendwo gediehen Sträucher oder verriet die Natur sonstige Bemühungen um organisches
Leben. Es war der einsamste Ort, den er sich überhaupt je hätte vorstellen können. Und sein Körper und seine Seele waren hier gefangen, eingebettet in der düsteren
Menuette eines träumerischen Morgenlichtes. Sodass er liegen blieb und schwieg, stundenlang, bemerkte er, dass es nicht heller wurde, dass dieser graublaue Film konstant
die Natur für sich beanspruchte und nicht aufhellen ließ, und was sollte er sagen, denken, fühlen angesichts dieser bizarren Unmöglichkeit, es entlockte ihm ein bitteres Lächeln
und bestätigte seinen immer tief aufkeimenden Verdacht, an einem Ort gefangen zu sein, der nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatte. Gefangen in einer Allegorie, die sein
Unterbewußtsein für ihn hergerichtet hatte. Vielleicht lag er wirklich im Koma. Oder, nachdem sein Körper zu Grunde gegangen war, fiel die erbarmungslose Wüste nun
über seine Seele her, würde sie ausgaren und eingehen lassen mit den Waffen eines unendlichen Ausblicks und jener Einsamkeit.
So würde er liegen bleiben, warten, bis sein Blick in die Leere zum Abgesang eines ewigen Zustandes würde.

Er hatte das schon als unverrückbare Wahrheit anerkannt, als er sich kurz aufrichtete und plötzlich den Geruch von brennendem Holz vernahm.
Seine so auf Ruhe eingestellte, wartende Seele erschrak bitterlich angesichts eines so vorsichtigen, kaum vernehmbaren Eindrucks, dass er sich nicht traute,
sich umzudrehen. Er wusste, dass der Geruch vom Wind zu ihm aus einer Richtung getragen wurde, in die er noch nicht geblickt hatte, weil er in einem tiefen
Verständnis ruhte, die Makellosigkeit der Weite so weit anerkannt zu haben, dass es keiner Blicke mehr bedürfte. Er wusste einfach, dass diese Wüste in alle Richtungen
mit der gleichen Endlosigkeit verlief und in einer unerreichbaren Ferne der Horizont den abgekühlten Sand in einer unsäglich sanften Berührung streifte.
Dennoch, dann drehte er sich langsam um,
und erblickte in der Ferne, mehrere hundert Meter von ihm entfernt ein einsames, fackelndes Feuer und eine spärliche, dunkle Rauchwolke.
Und mit einem Schlag keimte es in ihm auf, Wärme durchströmte seinen Körper. Er hatte sich
bereitwillig in die Aussicht auf eine ewige Einsamkeit eingelassen und war zutiefst davon überzeugt, dass dieses Feuer, dieses warme Zeichen nun ihm galt.
Etwas in dieser hämischen Allegorie musste Erbarmen mit ihm haben.
Er prüfte seinen Körper, die Verletzungen des Angreifers schmerzten noch immer. Er verschwendete keinen Gedanken mehr an die Frau mit dem Säugling
und an den Mann, der Kristof hieß. Er schob es seiner Amnesie zu, dass er keine Verbindung zu ihnen herstellen konnte, und ehe er diesen dichten
Vorhang des absoluten Vergessens niederreißen konnte, musste er zunächst sein Überleben sicher stellen. Und bis auf einen geprellten, gepeinigten Körper,
einen tief sitzendem Schock und den Kleidern, die er bei sich hatte war er mehr oder minder den Gezeiten dieser Wüste schutzlos ausgeliefert.
Unter unsäglichen Schmerzen und Erschöpfung rannte er los, so schnell er nur konnte. Atemlos und keuchend, mit einem irrsinnigen Glänzen
der Freude und Annahme in den Augen sog er den immer wieder aufkommenden Geruch von Feuerholz auf und kam der Stelle immer näher, bis es schlicht greifbar
schien. Dann verlangsamte er seinen Schritt, erschöpft und nach Luft ringend, lief aber unvermittelt und entschlossen weiter, bis er die Feuerstelle erreichte.

2.
"Setz dich."
Er gehorchte. Ohne auch nur einen Gedanken an Widerrede zu verschwenden, setzte er sich neben dem alten Mann ans Feuer.
In seinem Schoß ein makelloser, von der marginal aufblitzenden Wut der Natur unberührter, silberner Revolver.
In seinem Blick die züngelnden Flammen, die pulsierende Glut.
Er musterte den alten Mann lange und ungläubig.
Er hätte gerne widersprochen, hätte den Mann mit seinem Unglauben und seiner Verzweiflung konfrontiert, denn noch hatte ihn diese Wüste und ihr Licht
nicht vollkommen vereinnahmt. Er hatte Geruchsfetzen, Bilder und schmächliche Gefühle der Vergangenheit vorsichtig hervorgekramt, als er da gelegen hatte, gebunden und
gebrochen, genug Eindrücke aus den Tiefen seiner Seele, die ihn daran erinnerten, dass dieser Ort nicht richtig war, dass er nicht hier hin gehörte. Aber er konnte
nicht. Die graue, vernarbte und von tiefen Furchen gezeichnete Haut des alten Mannes, sein sorgsamer Seitenscheitel, der ein graubraunes, wild wucherndes
Haarnest zu bändigen versuchte, der sorgsam sitzende, vom Sturm und Regen anscheinend unberührte, graue Cortanzug und das seltsam vieldeutige Lächeln,
das seine Lippen umspielten, schnürten ihm die Kehle zu. Seine Nase war spitz und glatt, ein fremdartiges, vom Alter unberührtes Insignium, das in dieser Form
nicht in seinem Gesicht sitzen durfte, der Blick war um Festigkeit bemüht, aber in ihm ruhte die Erschöpfung eines alten, gepeinigten Köters, der sein Herrchen nicht
wieder erkennen konnte und die Welt um sich herum nur noch in hektischen, panischen Gebärden warhnahm.
Der silberne Revolver strahlte die nötige Autorität aus, die dem Mann den Mut nahm und zu guter Letzt
vermittelten diese tiefen, von einem unerklärlichen Schatten umspielten Augen allzu deutlich, dass dieser alte Mann jenseits von Gut und Böse die Wüste kannte,
als wäre er in ihr geboren worden, als hätte ihm Gott oder eine andere höhere Macht diesen Platz am Feuer zugewiesen. Welches Wissen ihm auch immer innewohnte,
der Mann spürte, dass der Alte dieses Wissen nicht teilen würde. Als er nach einer geschlagenen Minute noch immer reglos da stand und den alten Mann fixierte,
strafte dieser ihn mit einem kalten, präzise in seiner Wirkung kalkulierten Blick ab, und widerspenstig, mit einer hoffnungslosen und stoischen Hinnahme eines zu
Tode verurteilten setzte sich der Verirrte neben ihn.

Der alte Mann nahm den Revolver und öffnete die Trommel. Seine Bewegungen waren langsam, aber präzise, keine Regung war überflüssig. Er holte jede Kugel
einzeln raus und verstaute sie im Futter seines Jacketts, bis auf eine letzte Kugel. Er wand die Trommel, das ratternde, metallische Geräusch ließ den Mann zusammenzucken. Dann warf er sie zurück in ihre Ankerung, legte die Waffe in seinen Schoss zurück und starrte eine schweigsame Ewigkeit in die Tiefen der Glut.
"Der Mensch ist ein gehetztes, verunsichertes Tier.", sprach er plötzlich. "Er wird ohne Abbitte in diese Welt geworfen, altert, verdirbt und gerät in das Räderwerk einer Welt,
die er nur maginal versteht. Er wird von ihr geprügelt, seiner Würde beraubt, wird gewürgt und verlassen. Oft kann er es nicht besser machen, er schlägt um sich wie ein
umzingelter, gegeißelter Blinder. Er wird schwach, müde, er wird traurig. Aber er besteht auf sein Recht zu leben. Er besteht darauf und jeder von uns besteht auf sein Hoheitsrecht,
vor seinem eigenen geistlichen Auge gelten zu dürfen, etwas bedeuten zu dürfen. Und dann verschmilzt die Welt vor seinen Augen zu einer feindseligen Masse neidischer,
unnachgiebiger und ungönnerhaften Fratzen, und wir ballen unsere Fäuste, schlagen in diese Fassade ein, getrieben und erregt vom Geruch unseres eigenen Blutes. Wir schließen die
Augen und prügeln wie von Sinnen auf diese Fassade ein, bis wir müde werden, oder bis diese eine, unsere Faust einmal zu oft die falschen Fratzen zerberstet.
Dann suchen wir uns einen ruhigen, dunklen Ort zum Sterben, tätigen vielleicht einen letzten Anruf. Dann warten wir. Und sterben, unerlöst und benebelt."
Er sah den alten Mann unvermittelt an. Hatte er bis zu diesem Zeitpunkt zuviel Angst gehabt, seinen Gesichtsausdruck mit verräterischen Gefühlen zu füllen, brach diese Entschlossenheit
nun angesichts der Worte des alten Mannes. Er verstand nicht warum, vielleicht weil es der rauhe, unnachgiebige Klang seiner Stimme, der zärtliche, väterliche Singsang seiner Stimme.
Vielleicht war die Tiefe dieser Worte zuviel für das Gemüt eines Mannes, das eine empfundene Ewigkeit um die Akzeptanz einer kosmisch vorherrbestimmten Einsamkeit gekämpft hatte.
Was ihn auch immer an diesen Ort gebracht hatte, er musste diesen absurden Umstand mit Sinn füllen, und wenn er die Wirklichkeit dafür bis zur Unkenntlichkeit abstrahieren musste.
Aber bis jetzt, bis zu dieser bizarren Audienz hatte er diesen Schmerz nicht definieren können, er glaubte nun zu verstehen, welche Scham das Fundament für diesen Schmerz legte,
ja, er war sich plötzlich sicher, es war Scham, so groß, so allmächtig, dass sie die Bilanz eines ganzen Lebens, das in seinen wirren Schnipseln nachhallte, mit unerträglicher Pein
füllen konnte, und er musste schlagartig an sein verzweifeltes Kriechen, jene aufgeblähte Scham denken, die er verspürte, als sich ihm die Frau mit dem Säugling genähert hatte.

Dieser Ort war nicht sein Nemesis, es war keine auferlegte Strafe, kein initiiertes, von einer universalen Macht erdachtes Schicksalsendspiel, das verstand er plötzlich. Die Regel, nach der
er gelebt hatte, wie diese auch immer ausgehen haben mag, hatte ihn an diesen Ort geführt. Also welchen Wert konnte diese Regel haben? In den Worten des alten
Mannes lag somit etwas Vergebendes, sie betrachteten ihn als Mensch, als vollendete Summe spezifisch motivierter Handlungen. Er verstand nicht, wie aus diesem Nebel dieses
klare Wissen und Verstehen solcher Dinge geboren werden konnte, aber es war da, kristallklar, und als ihn der alte Mann nach diesen Worten mit einem zutiefst traurigen,
bedauernden Lächeln, das mitleidiger nicht sein konnte, bedachte, hatte er das Gefühl, dieses Verständnis ganz und vollkommen als wahrhaftig in sich aufnehmen zu können.
Der alte Mann reichte ihm den silbernen Revolver. Er nahm ihn an sich, betrachtete ihn kurz. Die perfekte Verarbeitung, das funkelnde Chrom des Laufes, die schwarze, hölzerne
Staffete des Halters, sie war zu schön.
Er hob die Waffe und hielt sie sich an die Schlefe. Der alte Mann würdigte ihn keines Blickes, als er den Abzug tätigte.

Dienstag, 17. Juni 2008

Ray

1

Milch

Drei Meter trennten Ray von seinem Kühlschrank. Eingepfercht und eingebrochen unter dem unaufdringlichen Summen des Kühlschranks, wie unter dem Gewicht einer großen, mit jedem Atemzug massiger werdenden Blase. Die Hände in die Lehnen gekrallt, jene zerschlissenen Pfoten, und
wenn Sie sich bitte mit mir zum Kühlschrank begeben, leisen Schrittes, ihre geschärfte, wachsame Iris dann Ray zuwenden, drei Meter Kacheln, blauen Dunst und schmärliche Geruchsfetzen überbrücken,
sehen Sie, was ich sehe, ein bittersüßes Surrogat dessen, was biologische, lebendige Materie ist. Der offene Bademantel, der magere, mit grauen Haaren besprenkelte Körper, das schlaffe, eingeknickte Glied,
das lichte Haar, der Blick, der Welt und Treiben hinter dem Milchglasfenster vermutet. Gelbliche Fingernägel berühren das dicke, weiße Glas und fahren kratzend über die glatte Oberfläche, Sie stehen ihm
gegenüber, er kann sie nicht sehen, aber sie erschrecken leicht, als sein Blick plötzlich in ihre Richtung starrt, durch sie hindurch den Kühlschrank fixiert. Das Kratzen kommt zum Ende, die gelblichen Nägel
lassen ab vom Schnee und er erhebt sich, kommt auf Sie zu, auf mich, seine Hand dringt durch unsere Brust wie durch träges, saftiges Gelee und öffnet die Tür. Kaltes, klares Licht fällt auf sein Gesicht, und
mit einem Mal wollen Sie ihn berühren, seine Wange streicheln, aber ich verbiete es Ihnen. Durch Gelee und Dunst greift er sich eine Milchpackung, führt sie zu seinen Lippen, hält inne, starrt an uns vorbei in die dunkle Tiefe der Küche und gießt die Milch dann ausdruckslos über seinen Kopf. Das Plätschern auf den Kacheln hält lange an, dumpfer Geräuschdunst von draußen lassen Autohupen und reges Verkehrstreiben vermuten. Ray's Atmung setzt nahezu aus,
dann sieht er Ihnen tief in die Augen. Seine Lippen gehen in einem kaum vernehmbaren Schmatzen auseinander, "Siehst Du?", Sie zucken zusammen. Er kann Sie sehen. Warum? Weil ich es veranlasst habe.
"Siehst du was Dummes ich gemacht...habe?" Dann teilt er mit Ihnen ein Lächeln, das von der Schönheit dieser Geste erzählen will, eine Schönheit, die nur durch seine Augen gesehen werden kann, aber keine
Sorge, ich werde versuchen Sie so nah wie möglich an ihn zu bringen, zu drängen und zu binden, und schon bald werden Sie glauben, mit ihren eigenen, blutigen, aufgequollenen Füßen auf Milch und Kacheln zu stehen, und der dumpfe Verkehrslärm wird Ihnen gelten,
nicht dir, Ray. Sieh jetzt bitte weg.
Seine Füße schleifen über die Kacheln, seine Silhouette verschwindet in der schummrigen Menage seiner Wohnung. Es ist 6:07, das flackernde Licht, das ihre Aufmerksamkeit als letztes erhascht, ehe Sie in einen
tiefen Schlaf fallen ist das des Fernsehers, der neben dem leeren Ledersessel lautlos vor sich herdämmert.


2

Marmor

Früher war es eigentlich ein Ritual gewesen, vor dem Gang ins Bad das Fenster zu öffnen, zu lächeln über das rege Treiben auf den Straßen jener Provinzstadt, die ihn mit ihrer vorstädtlichen, nostalgischen Magie gepackt und da behalten hatte. Den Geruch der Autoreifen und das Aroma bunter Gemüsemärkte boten Eindrücke, die er mit geschlossenen Augen wie Duftessenz in imaginären Flaschen abfüllte, um ganz kurz high zu werden. Die Kunst, aus den kleinen Dingen genug Leben für den Alltag zu schöpfen war ihm dann plötzlich mit einem Schlag abhanden gekommen, er vernahm nicht mal den bescheidenen Nachhall jener Zeit, alles was blieb, war Leere, ein Zerfall, der mit der Reife kam, er brauchte ein namenloses Gefühl für ein Loch von namenloser Tiefe. Im Dunst des Spiegels, mit fahrigen Fingern der festgehaltene Moment geistlicher Festigkeit, das Bemühen um Poesie, um eine selbst kreiierte Wortwahl, die sein eigenes Herz zu berühren vermag.
"Desto mehr du stirbst, desto mehr begreifst du, wie schwach das Stück Leben war, das dir gerade entgleitet."
Und an jenem Morgen, als er das Fenster aus Gewohnheit öffnete, die Leere mit einem zynischen Lächeln begrüßte und den Gang zum Kühlschrank machte, fühlte er sich nicht anders als sonst. Dir ist nur kalt, wenn du dich im Moment des Frierens nach Wärme sehnst, Baby, dachte er und belog sich selbst mit einer krankhaften Vehemenz. Das amüsante an Raymonds Person war, dass er die Ziellosigkeit und Idiotie seines Handelns in vollem Ausmaße begriff, dem Zustand aber etwas bösartig humorvolles abgewinnen konnte und deshalb beim Gedanken an das Ende die Tür in sich abschloss, die ihm aus diesem Loch rausführen könnte. Er ahnte, dass sie ihn an einen Ort führen würde, an dem nur die Erkenntnis über die Erbärmlichkeit aller Dinge folgen würde, denen er mal Prioritäten eingeräumt hatte. Lachen. Kinderlachen. Jemand hupte, irgendwo zerdepperte jemand Geschirr. Unterm Strich ließ sich die Bilanz auf die graue Statuette eines Elefanten reduzieren, die auf seinem Fernseher stand, dessen marmoresker Körper mit eingeschnitzten Strichen gepfärcht war, für jede Nacht einer. Ihr langsamer, neugieriger Blick durch die spärlich möbilierte Wohnung offenbart Kerzen, Comics, Zeitungsartikel, Frauenzeitschriften, Jonglierbälle und Faschingskostüme, zehn an der Zahl, aufgehängt im Kleiderschrank, ein Affe, ein Priester, ein roter Blitz, Batman, Zorro und das grellbunt karierte Overall eines reglosen Clowns, dessen Fleisch und Knochen an den Wänden klebte. Ein weiteres, dunkelrot kariertes, aufgeblähtes Clownsoverall wurde just gerade von Ray bewohnt, der auf seinen Knien die Milch auf den Kacheln aufwischte.


3

Wut

Ray war ein pragmatischer Träumer, der beim Anblick seiner Fußmatte jedesmal aufstoßen musste, der beim Gespräch mit seinen Nachbar im Geiste die Dinge abzählte, die ihn an seinem Erscheinungsbild störten und selten auf etwas einstelliges kam. Manch einer würde sagen, dass Ray einfach ein Arschloch war. Und wissen sie was? Diese Leute haben recht. Ray ist ein Arschloch, die Sorte Menschen, mit denen eine Konversation immer ins Leere hinausläuft, weil er nie wirklich interessiert scheint, die Sorte Mensch, vor dessen Füße keine Taube landet, dessen Lebensfeindlichkeit die einer krüppligen, gieren Hyäne glich, abzüglich der perfiden Verschlagenheit. Er mochte Sex, widerliche Vergewaltigungsorgien, die er im Internet fand, denen er Müsli kauend und Gauloises rauchend beiwohnte, ohne zu mastrubieren, erstaunt, verwirrt und hingerissen von den ekstatischen Fratzen, die den Schlägen und den Säften ein geiferndes Lachen abgewinnen konnten. Er hatte seine Person aufgegeben. Mehr oder minder bewusst das Konstrukt seiner Person aufgegeben, weil es ihm als einzig umsetzbare Konsequenz erschien,
sich meiner zu entledigen. Aber ich blieb. Und habe Sie heute mitgebracht, damit jemand mein Gemälde betrachten kann. Seine Wut gilt nur mir, keine Sorge, um es so zu formulieren....
Da hatte er nichts dagegen, unserer 36-jähriger Menschenfeind, solange sie ihn nicht mit ihrer Scheiße belangen. Ray, du verbittertes Monster, wann hast du das Lieben verlernt?
"Fick dich! Fick dich! Fick dich!!!!!!" Die Kniee schlürfen, die verdreckte, mit grauen Fetzen und Fasern durchsetzte Milch würde nun so lange in dem Blecheimer weilen, bis sie säurig und Ray's Menage unweigerlich mit diesem Geruch verpesten würde.
Fragen Sie sich, wie aus dem verträumten Friedhofsgärtner diese verbitterte Natur geworden ist?
Das frage ich mich auch. Erklären sie es sich dadurch: Er besitzt keinen Glauben in nichts, denn früher dachte er in Metaphern, inzwischen empfindet er das als kindisch, wünscht sich aber die Phantasie zurück,
die ihm die Kraft zur Illusion schenkte.
Doch auch diesem kleinen Bürschtchen erwartete eine Überraschung. Es ist irrsinnig, zu glauben, dass der Mensch ab einem gewissen Punkt keine Chance mehr auf Überraschungen in seinem Leben hat, nicht wahr, Ray? Ach, fick dich!!
Sie müssen wissen, Ray mag mich nicht. Denn eigentlich bin ich der Grund für seine Probleme.
Ich habe mein Bestes gegeben, mit seiner Stimme sprechen zu dürfen, mit seinen Augen sehen zu dürfen, und so sehr der Mensch durch seinen Blick auf die Welt geprägt wird, wurde sein Blick auf die Welt durch
mich geprägt.
Stimmt’s, Ray?
. . . .


4

Schwarzer Ruß

Das macht er immer, wenn er auf stur schaltet. Den Mund halten.
Alles was ich ihnen gerade erzähle, hörte der gute Ray auch, und wenn ich sage, dass ihn eine Überraschung erwartet, glaubt er mir das einfach nicht. Ist das zu fassen, nach allem, was ich für ihn getan habe?
Wer ich bin? Kommen Sie schon, als wäre das von Belang. Konzentrieren Sie sich auf den guten Ray und sein schreckliches, schreckliches Schicksal. Ob ich mich über dich lustig mache? Das wäre das letzte, ich bin doch nicht grausam. Bitte Ray, du weißt, dass ich dich mag.
So, wie du jetzt bist.
Also, jetzt knipsen wir ihn aus der Leitung. Ray wird nämlich wie jeden Mittag zum Friedhof gehen, um seinen Job aufzunehmen. Was der gute Ray nicht weiß: Er wird heute gefeuert. Woher ich das weiß? Auch das habe ich veranlasst.
Gerade spazierte Ray durch die riesige, schwarze Gittertür des Friedhofs, als ihm klar wurde, dass er dieses Geruches überdrüssig war. Eigentlich riecht ein Friedhof nach Wachs, Stein und Moos, nach Garten und meistens liegt noch der sanfte Duftteppich von Lilien in der Luft, frisch platzierte Blumensträusse für verblichene Seelen, doch ein naheliegendes Fabrikgelände legte einen rußigen, schwefligen Geruchsteppich über die Anlage, ab und zu hörte er ein gewaltiges Donnern, zogen schwarze dichte Schwaden daher und verdunkelten den Himmel für eine Wille, was Ray nahe an die Toten rückte, sie ihm nahe brachte und die Welt mit einem schwarzen Film aussperrte, es wurde intim, manchmal flüsternd, oft ruhig, endlos ruhig in ihm. Für Ray waren die Hüllen, die unter der Erde lagen, stille Begleiter, deren hohle Weiten er mit allen Eigenschaften füllen durfte, die ihm gelegen kamen, verständnisvoll waren ihre Stimmen, manchmal mißgünstig, manchmal gar wütend, manchmal brachten sie ihn zum Lachen, manchmal schwiegen sie, schwiegen sie lange, als wollten sie ihn strafen. Langsamen, ruhigen Schrittes ging er zu seinem kleinen Holzstübchen hinter der Hauptanlage, öffnete sie mit seinem spärlich besetzten Schlüsselbund und holte Handschuhe und Schaufel hervor. Sein Kopf war leer, geleert von unerträglichen Geräuschen. Blätterrauschen, Kinderlachen vom Spielplatz neben an. Eine Ohrenfolter für Ray, erinnerte es ihn an das, was er nicht mehr besaß, seit ich in sein Leben getreten bin. Nein, nicht Unschuld...vielleicht die Erinnerung daran?
Er fing gerade an, sich an das Unkraut zu machen, das ein steinernes Kreuz fest umschlossen hielt, als die Friedhofsbeauftragte mit einem Klos im Hals sich von hinten annäherte. Sie war adrett gekleidet, wirkte mit ihrem pink - weißen Dress völlig deplaziert im tristen Ambiente des Friedhofs. Ihr Schuhe klackern, das sanfte Rauschen der Bäume kommt zum Stehen. Wir wollen uns die Analyse ihrer Gedanken sparen, verschwendete Zeit. Von weit größerem Interesse ist natürlich Rays Reaktion. Mit einem Tippen, das Ray zu Tode erschreckt, macht sie auf sich aufmerksam und kommt ohne Umschweife auf den Punkt. Alles, woran Ray dachte, als er gefeuert wurde, war ein großer, schwarzer Elefant. Unsinn als Selbstschutz? Eher Unvermögen. Als sie die Anlage verließ, grub Ray sein Loch fertig, zog die Handschuhe aus und trottete vom Friedhof. Die Toten schwiegen, diesmal weniger strafend. Ray hoffte insgeheim, der plötzliche Verlust seiner aufmerksamen Person hatte ihnen die Kehlen zugeschnürt und sie rangen angestrengt nach Worten. Aber er gab ihnen nicht die Zeit, zu ihrem Flüstern zu finden, er verschwand blindlings und floh über ein weites, stilles Feld zurück in die Stadt. In ihm war es ruhig. Die Wogen standen still.



schwarer_Rauch



5

Alice

Am Abend saß Ray in seiner liebsten Bar. Alles, was er tat, war warten, die Flaschen im Regal hinter dem Barkeeper zu zählen, den Atem schüren. Ein dramatisches, um Echtheit bemühtes Seufzen entwich ihm, dann ein gerade zu überspitztes in sich Hineinkichern,
das er nur widerwillig mit den anderen teilte. Er wartete wieder auf etwas. Verzweiflung macht sich gerade breit. Ich gebe mir ja, Mühe, drängen Sie mich nicht. Ich werde Ray ganz, ganz langsam vor Augen führen, dass der Regen gerade da draußen nur für ihn fällt. Ihr Blick fällt auf den Hocker neben ihm, Sie gesellen sich zu ihm, ich lasse Ihnen ein paar Minuten, wenn Sie ihm was zu sagen haben, tun Sie es, inzwischen dürfte er Ihnen nicht mehr allzu fremd sein.
Minuten passieren, als Sie zum Ende gekommen sind, stehe ich bereits hinter ihnen, und Sie überlassen mir wortlos den Hocker.
Ray, schau raus.
Sieh es dir gut an. Woran denkst du gerade? Alice? Vergiß sie. Nein, warte, vergiß sie nicht. Schau raus, fühle den Regen und fühle das Loch, das Alice hinterlassen hat. Spürst du, wie diese zwei Dinge verschmelzen? Es wird eins, der Regen wird zu Alice, und jetzt gerade entgleitet dir auch die Fähigkeit zur Melancholie. Weil du jetzt immer an Alice denken wirst, wenn es regnet, und weißt du was, Ray, weißt du was, das ist mein Verdienst.
Hasst du mich, Ray?
Nein, das tust du nicht. Du begreifst mich nicht mal richtig, Ray. Für dich bin ich eine Schwärze, die sich in den Löchern breitmacht und alles tiefer und dunkler erscheinen lässt, als es letzten Endes ist. Keine Tränen für niemanden, Ray, reiß dich zusammen. Deine Tränen sind unecht, ich habe sie entzaubert. Alles, was echt ist, ist . . . tja, Ray. Tut mir leid ich komme nicht drauf. Willst du mir auf die Sprünge helfen?
Gerade erhebt Ray seinen Kopf und betrachtet sein verzerrtes Spiegelbild im braunen, gekacheltem Türfenster. Er lächelt, weil ihm alles wie ein Traum vorkommt. Er sieht gebrochen aus. Er scheint hoffnungslos, ohne es sich bewusst zu machen. Er kämpft kraftlos, lebt leblos und hält dieses verkrampfte, zuckend um Leben bemühte Kind von Hoffnung in seinem Herzen für eine echte Quelle der Kraft. Er kriegt nie, was er will. Ganz einfach nur deswegen, weil das, was er will nie das ist, was er braucht, daher verwehre ich es ihm. Nehmen wir Alice? Komm Ray, erzähl ihnen die Geschichte mit Alice. Ray nimmt einen Schluck, dann blickt er in ein leeres Glas. Das Pfeifen einer Lokomotive füllt die Stille in seinem Kopf, dann bildet er sich kurz ein, ein Klavier in seinem Kopf zu hören.
Alles, woran ich denken kann, ist Wahrheit.
Hört, hört. Ein freier, von mir unberührter Gedankengang. Wiederholst bitte, was du gerade gesagt hast, Ray?
Alles, woran ich denken kann, ist Wahrheit.
Wahrheit ist eine abstrakte Idee, mein guter.
Eine Meisterleistung der menschlichen Abstraktion.


6

"Alles woran ich denken kann..."

Nein, Ray ist nicht wahnsinnig. Er ist auch nicht gestört. Tut er Ihnen leid? Ja, er ist wirklich zu bemitleiden.
Mitleid, Ray. Dein Einsatz.
Verdammt, was tust du? Jeeze in Gottes Namen, das darf doch nicht wahr sein. Reiß dich zusammen, Ray du blamierst uns beide. UNS BEIDE. Ein schreckliches, bebendes Zucken fährt durch seinen gesamten Körper, wie unter Schmerzen, und Salz kulminiert zwischen Sichel und Iris zu feuchtem Schmalz. Weinst du mir zu Liebe? Quit pro Quo, Ray? ich glaube wir haben einander noch nicht wirklich verstanden....
Ich habe keine Ahnung, was er gerade versucht, und das ist mein voller Ernst, ich habe keinen blassen Schimmer. Aber er zieht die Blicke auf sich, die kleine Heulsuse zieht alle Blicke auf sich. RAY! Die Kellnerin schaut dich an, Ray. Jeder in dieser gottverdammten Bar schaut dich gerade an und fragt sich, weshalb dieser gebrochene junge Herr so hemmungslos weint. Jemand hat mal gesagt, dass Selbstmitleid eine tolle Sache ist. Ich weiß nicht wer das gesagt hat, Ray, aber er war ein Arschloch. Du solltest nicht auf ihn hören, steh deinen Mann.
Ray schneuzt in seinen Hemdkragen, ich frage mich, wie er gerade auf die Gäste wirkt. Sie auch? Was schauen Sie mich so an, sparen sie es sich, ihre Verachtung könnte mich verärgern, und das würde sich nur schlecht auf Ray auswirken. Halten Sie bitte inne, denken Sie nach und stellen Sie sich Ray vor. In einem schwarzen, uralten Smoking, stellen wir uns vor, es sei das einzige extravagante in seinem Leben, die verbrannten Überreste seiner Kostüme im zuletzt ausgehobenen, noch nicht zugeordneten Grabe mögen uns wie Erinnerungsschnipsel vor dem geistigen Auge erscheinen. Friedhofserde hängt in seinen Wimpern, ist unter seinen Fingernägel, sie klebt in den runzligen Falten seiner Stirn. Er siehst aus wie fest gefroren, sieht aus, als würde er mit offenen Augen langsam sterben. Kurz verzerrt er sein Gesicht, doch das Wasser erbarmt sich. Er schickt die Tränen zurück ins Innere, sie kommen nicht. Seine Fahne stinkt wie die Wurzel einer verwelkten Lilie, seine leeren, zittrigen Augen, gott es tut mir so furchtbar, furchtbar leid, Ray. Es tut mir leid, zu was ich dich gemacht, aber du hättest meinen geheimen Kuss auf dein Gemüt nicht erwidern müssen. Regenprasseln, Alice, ich weiß, Ray, hör mir zu. Du bist selbst dran schuld. Das Kartenhaus ist zusammengebrochen. Und desto mehr die Erinnerung an das Kartenhaus verblasst, desto kleiner scheint es dir auch. Das Rad dreht sich nicht mehr.
Alles, woran ich denken kann, ist Wahrheit.
Wie bitte?
Gerade erhebt sich Ray. Die Leute schauen ihn an, als er zur Tür torkelt, den Blick irgendwo und nirgendwo, als die Kellnerin ihn aufhält, denn, der gute Ray hat nicht bezahlt.
Alles, woran ich denken kann, ist Wahrheit.
Die Kellnerin greift ihn am Ärmel. Er lächelt schmerzlich und sie glaubt ihm seine ehrliche Entschuldigung. Er bezahlt und torkelt raus, hinaus in die Arme von Alice, hinaus in die tonnenschweren Regentropfen. Trottel. Er torkelt die Straße hinunter, durch das besche Laternenlicht hindurch, bedeckt mit Alice’ s Essenz. Komischerweise denkt er gerade an das morgendliche Ritual, immer das Fenster zu öffnen und von der Atmosphäre der Stadt kurz high zu werden, er denkt an die ausgegossene Milch und versucht sich an das Lächeln zu erinnern, das er Ihnen schenkte, als er seinen einzigartigen Blick auf die Welt feierte. Er denkt an Weihnachten und Fahrstuhlmusik. Er denkt an große Schiffsmotoren, denkt plätschernd vor sich hin. Da, da kommt es gerade wieder! Gott sei Dank sieht das niemand. Bitte, Ray, nicht, nicht in die Pfütze, pass doch...auf. Gut, das wäre dann erledigt. Sein Körper, seine Kleidung, alles ist vollkommen durchnässt. In solchen Momenten feiert er mich, wären Sie nicht anwesend würde ich wohl gerade um ihn herum tanzen und ihm ins Gesicht pissen. Kleiner Scherz. Ihn umarmen. Noch ein Scherz? Beiweilen, ich glaube, eine Umarmung von mir wäre noch unangebrachter als ein im Rachen versenkter Pissstrahl. Doch es scheint wirklich so, als würde der liebe Herr Ray’s kniende Geste gerade nicht mitbekommen, denn so verweilt er, bis Alice geht und er auf der Straße einschläft, und die Welt lässt ihn.
Gute Nacht, Ray.
Gute Nacht, Ray.


7

Stoik

Am nächsten Tag kamen sie und brachten Ray weg. Er war zu schlaftrunken, zu traurig, um sich zu wehren, und auch den Beamten tat sein wehrloser, haltloser Anblick leid. Er schien so furchtbar gleichgültig, das einzige, was er gesagt hatte, war seine Adresse, und tiefes Schweigen herrschte im Polizeiwagen, als ihn die Beamten vor seiner Haustür brachten. Sie erwarteten keinen Dank, sahen ihm nach, wie er langsam und bedächtigen Schrittes auf seinen Wohnblock zulief. Der Regen fiel spärlich, irgendwo waren scheppernde Schienen zu hören, das Pfeifen einer Lokomotive läutete Ray’s weitere Stunde Leben, als er durch seine Haustür trat ein und hinterließ einen endlosen Nachhall in Ray’s Kopf, das Mantra der ewigen Wiederkehr, der ewig gleichbleibenden Stunde, die zum Leben wurde. Er setzte sich gerade hin, als die Tür klingelte. Was Ray nicht weiß, ist, dass er heute aus seiner Wohnung geworfen wird. Ich habe es veranlasst, damit liegen sie richtig. Wieso ich ihm das antue? Abwarten. Seien sie nicht so ungeduldig wie er, üben sie sich in Geduld und gewinnen Sie ein Herz für Ray, damit Ihre Wut auf mich sein gebrochenes verirrtes Herz rettet. Er öffnet, der Vermieter steht vor der Tür. Ähnlich wie die Dame vom Friedhof fasst er sich kurz, Ray nimmt seinen Rauswurf mit regloser Miene entgegen. Wenn man ein halbes Jahr keine Miete bezahlt, braucht man sich natürlich nicht wundern, Ray. Dabei hat er das Geld. Er hätte die Wohnung locker bezahlen können, doch wie auch sonst übernehme ich hier die Steuerung.
Ray kriegt eine Packfrist von vier Tagen, aber er wird heute Abend schon hier verschwunden sein. Mit einer stoischen Ruhe packt er ein paar Bücher, zwei Laibe Brot, eine Plastikflasche Wasser, ein paar Watchmen-Comics und ein Bild von Alice ein, dann steht er im milchig - grauen Lichtgefälle des Morgens und betrachtet die Staubpollen, ihren sorglosen, ziellosen Weg, der weder nach oben noch nach unten führt. Er fühlt sich seltsam dialektisch an sich selbst erinnert, ist überrascht über diese Zwangsläufigkeit, mit der sich ihm dieses eine letzte Bild, die finale Metapher aufzwingt.
Staub.
Alles, woran ich denken kann, ist Wahrheit.
Er verlässt die Wohnung gegen sechs Uhr abends, die Leute, die seinen Namen nie gekannt haben, werden erst morgen in der Todesanzeige seinen Namen erfahren, wenn sie sein Gesicht erkennen werden.


8

Niedertracht und Märchen

Dann war der Schmerz weg, Ray hatte es geschafft, ihn sterben zu lassen.
Mein Gott, sie sollten Ray gerade sehen, wie er daher läuft und pfeifend die Leute grüßt, die ihm verwundernd nachblicken, irgendwie niederträchtig und herablassend in seiner Gelassenheit. Briefträger, Milchmänner und Paare kreuzen seinen schlendernden Weg, weichen ihm mal bewusster, mal unbewusster aus. Der pfeifende Ray, der in der letzten Woche erfahren hat, dass Alice ihn nie geliebt hat, der seinen Job und seine Wohnung verloren hat, empfindet die menschlichen und materiellen Verluste als das verträglichste. Die Fähigkeit zur Übersicht und dem Setzen der Prioritäten hat er auch von mir, insofern ließ ich Gnade walten. Ihre langsamen Schritte halten Ray's Gang nicht ganz mit, Sie sehen mich an, als wollten Sie mich zerbersten, zerstückeln und in Flammen aufgehen lassen. Aber bei allem Respekt, niemanden in diesem Kosmos interessiert es einen Dreck, was sie denken. Sie durften bleiben, weil ich das so wollte. Ein kurzer Blick in das Hirngewinde von Ray offenbart Klimpern und Gleise. Das Jazzklavier in seinem Kopf regte sein Pfeifen erneut an, als er sich erinnerte, was er als echten Verlust empfand, als er dann so weit ist, ist er ihnen schon weit vorausgelaufen, wird kleiner, bedeutungsloser, und die Erinnerung an ihn wird Sie zu sehr anstrengen um ihm irgendwie treu bleiben zu können. Nennen Sie diesen Umstand eine kleine Nuance meines Exempels. Der gut gelaunte Ray hatte schon in den frühen Jahren einen großen Fehler begangen und mich ignoriert, deshalb ist er ein zielloser Friedhofsgärtner geworden, und erst seit kurzem, seit ich mich penetrant bemerkbar gemacht habe, ist ihm klar geworden, dass nichts wirklich wahr ist, nichts von echter Bedeutung ist. Kaum ein Märchen, kaum eine Geschichte, alles, was die Leute hören und wissen von anderen Menschen, der Blick auf die Welt, auf Wahrheiten, in Filmen, Ereignissen und Erfahrungsberichten basieren immer darauf, dass eine innere Stimme den Protagonisten leitet und ihm hilft zu verstehen, was richtig und was falsch ist. Das ganze Leben befindet sich nur in einem Einklang mit sich selbst, wenn die innere Stimme einverstanden ist mit dem, was man tut, sagt man, selbst wenn es ein Röcheln, ein beschämender Nachklang von Vernunft ist, der leiten sollte aber einen vehement in diesem Labyrinth eingesperrt hält.
Ray wird bald sterben, und niemand wird sich an ihn erinnern. Das Leben ist ein ehrliches Märchen, ein schönes Märchen, das der Kälte der Natur lieblich trotzig begegnen mag. Insofern...wenn jedes Leben eine Essenz hat, die irgendwo hin geht, wenn man stirbt, dann bin ich bei Ray diese Essenz: Der Widerwille, der irgendwann den Lebenswillen ablöst, ihn Gräber schänden, Frauen lieblos behandeln und die Wohnung nicht bezahlen lässt, der ihm das Gefühl gibt, dass nichts und niemand wirklich von Belang ist. Jemand hat die Lichter ausgemacht. Jemand hat Ray durch die Dunkelheit torkeln lassen, und der Gute konnte sich nie entscheiden, in was für eine Richtung er torkeln sollte. Ein Munkeln im Dunkeln, im letzten Chamäleon-Korridor dieses Labyrinthes riecht es nach Urin und Kotze, aber die Steinmauern sind warm, wie von einer unsichtbaren Sonne erfasst, ein Machinista legt sich in die Ecke, eingebunden in ein rotes Leichentuch und zieht sich mit einer Holzzange die Backenzähne. Rhytmisches, aufgeregtes, dumpfes Klopfen lässt die Mauern des Korridors erzittern, das Chamäleon pulsiert, der Machinsta wiegt sich an seiner Brust als wolle er gestillt werden. Die Uhr steht still. Das Pulsieren wird schwächer, der Atem des Machinsta ebenfalls und er klackert mit den losen Backenzähnen eine Melodie in seinem blutgefüllten Maul. Holzzange, Pisse, warme Mauern und die pulsierende Brust eines Chamäleons. Dann...Stille.


9

Blutzoll / Abschied

Wir werden jetzt gehen. Respektvoll wie wir sind überlassen wir ihm den Aufstieg auf den Brückenrand selbst, ich verbiete Ihnen, ich verbiete dir den Blick auf das letzte Bild, ich will, dass Sie mich ansehen, mir tief in die Augen sehen und mir ein Lächeln schenken, das von Ihrer Welt erzählt, Ihre Zähne, Ihre Nase, Ihre Augenbrauen, Ihr feuchter Mund ist mir zugewendet und triefen wie die geschliffenen, brachialen Züge eines Kleindkinds mit alter Seele. Alles ist still, ihr Rücken ist Ray zugewendet, als der erste und letzte Schritt in die Leere getan wird. Ihre Hand fährt mir an den Hals, wütend versuchen Sie, mich zu würgen, aber plötzlich sind sie schwach, kraftlos, Ihr Kopf sinkt in meine Arme und ich lege Sie sanft auf den Asphalt nieder. Ihre Augen sind schwer, der wolkenbehangene Himmel zieht achtlos über Sie hinweg. Ray fällt wortlos, das letzte was Sie vernehmen ist das Quietschen von Autoreifen. Geschrei. Eine Frau brüllt wie von Sinnen. Schritte. Ich sehe Ihnen ein letztes Mal tief in die Augen und küsse Ihre Stirn. Ihr Körper dematerialisiert sich,
Ihre kurze Reise ist zu Ende und schwere Dunkelheit bricht über Sie herein. Ray's Melodie schafft es nicht ganz, auf Sie überzugehen, aber ein einzelner Klavierton gräbt sich tief in ihre seelischen Furchen ein und ich gebe Ihnen ein letztes Lächeln mit auf ihren Weg.
Auf Wiedersehen, Raymond

Mittwoch, 11. Juni 2008

Roter Saum

09


"Wolkengericht, Licht bricht in der Mitte auf und offenbart glutartige Kotze, du dämlicher, du dreckiger Köter!
Ende naht, die Toten riechen Lilien, zählen Schafe auf ihren Köpfen, trocknen
ihre Körper mit Leim und backen die Kinder in den Kuchen, bohren mit kalibrierten Fingern Löcher in ihre Köpfe, stehen flugs in einer reihe,
sammeln zerschlissene Buchstaben auf und fügen sie zu Zahlen zusammen, hören die Lügen ihrer Mütter, schmecken Monderde auf der Zunge, einer
tritt hervor, brünstet dich an "sieht dem Bulldogen in die Augen", Stein, Strapse, Papier; Der ärmste von ihnen warf seinen
Bruder in den Schuppen, dunkelte das Licht ab und kratzte das letzte Fleisch von den Wänden,
der nächste nähte seine Schwestern zusammen und backte das letzte Kind
in den Kuchen, Apfelkuchen, deine Maschine blinkt pink, schlägt Alarm, der Herbst kam zu früh, kleiner
pin eyed boy, träum von mir, und ich werde da sein, tip toe, tip toe, Ballon? Ich sehe keinen. Jeder christlich beherzte Tote wird dir
zeigen, wie man den goldenen Ball verschläft, sich niederlegt, versucht, nicht zu sterben, den Honig zu
streuen, das Brot zu brechen, die Bienen zu deinen Knieen zu füttern, Stein, Strapse, Papier, kühlende Blutbäder
im Anschluss, mit vollem Magen, honigverschmierten Lippen und einem selbstvergessenen, blödsinnigen Grinsen, Ballon? ich sehe keinen.
Von den Bäumen bis zu den Serpentinen, von Bienen zu deinen Knieen, von Zuckerwatte bis zum Buckingham Palace, keine Spur von dir.",
sprach der kleine Junge mit
der Totenmaske, klapperte mit den Zähnen zu meinem Lieblingssong, auf dem Tisch Kartoffelchips
und Apfelkuchen, gebacken in sapinfarbenen Weinflaschen, der Bus fuhr VIER STUNDEN, um pin eyed boy am goldenen Wasser rauszulassen.
Die Maske hat er von mir, alles andere hab ich von ihm.

Donnerstag, 5. Juni 2008

Come in by Exit

438TrainStation



Als erstes folgt eine sehr seichte, sich einschleichende Form der Erblindung, zunächst formen die Krater in der Iris kleine Landscapes und ihre Tiefen kühlen auf
Zimmertemperatur ab, der Tau in den rabiaten Rissen wird trocken und fällt ab. Am Fuße dieser Tiefe ohne Firmament weilt das
Geäst still und unberührt, und das ihm angewachsene und ihn umgarnende Glockenspiel kommt mit seiner Melodie langsam zum
Ende. Das letzte, unhörbar leise Crescendo ringt in der unterkühlten Windstille um ein paar letzte Akkorde. Als der Fötus sich
streckte und durch die schleimigen, warmen Höhlen nach Licht und Geruch griff, das süße, fette und glänzende Fleisch mit
Aufbrunst sich seiner Heimat entledigte, ohne dass dem ein Gedanke, ein archaischer Rahmen für das, was später Freiheitswille
werden sollte, zu Grunde lag, bließen schwarze ölige Lippen das erste und letzte Mal ihren Atem durch das Geäst, und die
feinen, schäbigen Glöckchen stimmten ihre Melodie an, ohne Thema und Motiv, ein Impuls, ein Crescendo, Auftakt und Ende,
und dazwischen Töne, deren Echos sich wuchernd stapeln, für jede Klangfläche, jede Kaskade ein Äquivalent im Diesseits, exorbitant
und taub für das Glockenspiel. Nur im Syntagma der Ereignisse spiegelt sich das Muster der Melodien, der Kaskaden wider und lässt erahnen,
was sich hinter dem wissenden Lächeln der schwarzen, öligen Lippen verbarg, als sie dem Glockenspiel das kurze Leben einhauchte,
ob sie das Syntagma vor Augen hatte, die kurze, schiere Verkettung der Unbegreiflichkeiten, ob sie Ordnung im Sinn hatte oder
ob jenes matte Grinsen einzig und allein für sich stand.

Als zweites: Die Erblindung wird vollkommen, Wälle aus schwarzem Guss stürzen und brechen die Kratermauern und lassen
barsches schwarzes Gelee gewähren. Der Garten am Fuße der Krater kommt zum Erliegen, der Verdacht kommt auf, jenes Gelee auf den Lippen
gesehen zu haben, welche der Befreiung des Fötus still und klammheimlich beigewohnt hatten. Das gleiche matte Glänzen,
als wäre es erst vor kurzem aufgetragen worden, und zwar dicht genug, um das zarte, geflissentliche Rosa zu einem Schwarz zu
verdichten, das sich der Iris aufgezwungen hatte und über dem einzigen absoluten Hauch ein schwarzes Wort gesprochen hatte,
dem das gequält um Echo ringende Crescendo nichts entgegenzusetzen hat. Die Windstille hält an, die letzten drei Glocken
zucken in einer rabiaten Tonika, zwei hohe Schellen ersterben und überlassen einem letzten breiten Glockenzylinder das Zepter.
Der Schlussakt des Syntagmas kann erhebend sein, kann als befreiende Geste statt finden, als ein Akt der Hilfe, ein Akt der
Liebe, der Zuneigung, vielleicht der letzten großen Enttäuschung, des letzten Kopfschüttelns und der Ratlosigkeit, ein Hauch
von Optimismus, vll sogar empfundener Sinn und dumpfe Zufriedenheit, er ist grenzenlos und zugleich ein lächelndes Loslassen der Melodie und die Versöhnung
mit dem zu Tode gequälten Crescendo. Doch genau wie der letzte Glockenzylinder kommt auch seine emotionale Äquivalenz
zum Erliegen, und alles, was bleibt, ist Erinnerung, an Echokaskaden und der wütende Blick auf die öligen Lippen bebt und zetert, jene öligen, schwarzen Lippen, die den
ruhenden Kopf des Säuglings küssten, ehe er beschloss rauszugehen und zu sterben. Die Metasprache des Syntagmas
wird stumm, das Gefühl wird also taub, Mutter, und das schwarze Wort überlässt Dekaden des Lebens der Erinnerung.
Vielleicht ist diese nur der nächste, der höhere Code, die erweiterte Metasprache, die nun in sich ruhen kann und mit stillem
wissenden Auge auf Auftakt und Ende zurückblickt, auf Glockengewirr dazwischen, mit Schelme auf den Lippen, die verdächtig an das ölige, rußig-schwarze Lächeln
erinnern. Die Kapuze wird tief ins Gesicht gezogen und zwei Züge dürfen von dannen ziehen, ohne Grund darf die Zeit verstreichen
und mit innerhalb dieser Stunden, die in sich ruhen, verliert der Blick in die Leere seine Tragik, und der neue Metacode hat sich etabliert.
Ich weiß noch, wie......

Montag, 31. März 2008

Agenda

Ein homophober, verzerrter, wirkungsvoll inszenierter, aber stummer Diskurs. Für jede Separation ein Schlüsselreiz.
Jedweder Anblick erkämpfter oder angeborener Insignien und die damit verbundene, flexible Selbstwahrnehmung. Das
Setzen gesellschaftlicher Rahmen, die immer künstlicher, immer abstrakter werden, und desto eleganter und urbaner
sich diese Abstraktion artikuliert, desto wertvoller, desto aussagekräftiger und gehaltvoller sind die Puppen, die in ihr
tanzen. Umso mehr sie einer spezielleren Wahrnehmung bedarf, umso mehr Blickwinkeln sie sich entzieht, desto
verwegener, unnahbarer erscheinen die Träger der Insignien, die Neid hervorrufen, die traurig, die Einsamkeit
fühlbar machen und ein klares Bild der eigenen Entbehrungen zeichnen. Der Anblick von aufgespießtem, von schneeweißen
Scherben durchdrungenem Zahnfleisch, der metallenen Krawatten und Handkofferpeitschen, mit denen die Dompteure sich
zu helfen wissen, kautschukes Ameisengefiedel und puröse Blutkristalle, Röhren, die den Geist aufgeben, Röhren, die messerscharfe,
gedankenzersetzende Bilder liefern, sofern zerschlissene Hände sie zu reparieren wissen, klaffende Mäuler in der U-Bahn
und lichterbesprenkelte Rachen, aus denen die brüllenden, die metallenen Insekten kommen und gehen. Diese Welt verschlingt
und suggeriert in einem Fort Schwäche, Anpassungsbedarf und Kontradiktion. Der abgenutzte, pervertierte Selbstzweck
dieser Gebärmaschine, dieses Naturvergewaltigers, dieses großen Verschlingers mit Clownnase, dieses gekreuzigten
Blenders, dieses karessierenden Ungeheuers ohne Erbarmen hat seine Zweige und Aterien in alle Himmelsrichtungen
sprießen lassen und unsere Körper vereinnahmt, unseren Geist entwurzelt. Seine Vielschichtigkeit, seine Gesamtheit,
seine systemtheoretische Perfektion ist ein Resultat eines morbiden, brutalen Überlebenskampfes, seine unübersichtliche,
sich ewig differenzierende Ausweitung ein augenscheinliches Resultat seines unnatürlichen Selbstzweckes. Ein System,
in dem niemand die Fäden zieht, in dem die Kapazitäten und Ressourcen dieser Welt der gewaltsamen Willkür der
globalen Mechanismen unterliegen. Fluoreszierende Röhren und abgewälzte, rußige Buchseiten füttern die Mitesser und Auktionäre
und Aufseher, füttern den Menschen mit dem Füllkörper der Geschichte, dem Lügenkonstrukt des hungrigen, gierigen kulturellen Gedächtnisses,
und es ist okay. Wiederkehrende Generationen, die mit dem Bewußtsein der Geschichte
und dem Diesseits definieren, was sie werden wollen und die Frage nach dem, was
man geworden ist, als Todesstoß für den Motor dieser Gebärmaschine empfinden. Ein System, das nach Einigkeit,
vollkommener Effizienz und der ultimativen Zentralisierung der Macht strebt. Ein System, das in seiner globalen
Ungeheuerlichkeit vermeintlich unsteuerbar, selbstläufig und auf seltsam morbide Art und Weise teleologisch
ausgerichtet zu sein scheint. Es kann niemanden geben, der aus diesem geordneten globalen Chaos eine klare
Agenda schöpfen will, kann es? Das politische, finanzielle, ethnologische, religiöse und ökologische Chaos dieser
Welt ist, in seine Einzelfaktoren zerlegt, ein monströse Spirale, eine unsteuerbare Konsequenz einer absoluten,
unverrückbaren Vergangenheit, die ihre Weichen gelegt hat. Kann es einen Geist, einen Willen, gar eine Gruppe geben,
deren einzige Spur, die sie uneleganterweise hinterlassen haben, dieser seltsam schäbige, unnatürlich aufkommende
Verdacht einer Teleologie in all dem ist, der nicht aufkommen dürfte, wäre die Selbstläufigkeit, mit der sich dieses
Chaos selbst erschaffen hat, Realität, Tatsache? Es ist das Antlitz dieses grünblauen, nach Moostau miefenden Ungetüms,
das Schuld, Erfolg, Sinn und andere Konstrukte wie Essensmarken verteilt, das sich in unzählige kulturelle
Sphären mitosiiert hat und nun als unüberblickbarer, unbesiegbarer, teils vergötterter, teils dämonisierter Megamechanismus
unsere Selbstbestimmung zur Farce hat verkommen lassen.

Wenn kurz inne gehalten und die Selbstläufigkeit dieser irrsinnigen Systemanhäufung hinterfragt wird, bleibt einem zunächst
nicht mehr als empirische Betrachtung. Wo liegen die Machtzentren, wo die möglichen Interessengruppen, wo die grundlegenden
Prinzipien, die diesem Chaos seine grundlegenden Strömungen geben? Es ist die Skepsis und der Zugang zu Wissen,
der einen jeden beflügeln und beseelen kann, der ohnmachtsfördernden Übermacht der Informations- und Daseinsflut zu entgehen.
Der erste Schritt wäre das Gestatten einer Erbsünde, die in den Anfängen des kultivierten Seins die ersten Weichen legte,
nämlich den Hegen eines Verdachtes auf ein Feindbild.
Das ist legitim, sofern es dem sachgemäßgen Versuch einer Beleuchtung von Zusammenhängen dient. Das Feindbild ist
nicht absolut und keine persönliche Indifferenz bindet mich an dieses Feindbild. Das Zusammentragen von Informationen
soll eventuelle Zusammenhänge, wenn überhaupt, möglichst zwangsläufig erschließen.


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