Dienstag, 5. August 2008

Pandoram Stream Pt. 3

3.
Sein jäher Lauf kam zu einem raschen Ende, als ihn auf unergründliche Art und Weise jene Mutlosigkeit überkam die er beim Anblick
des brennenden Baumes empfunden hatte. Er hatte die Mauer der Dunkelheit durchdrungen, stieß und trieb und keuchte in ihrem
unsichtbaren Netz wie ein gefangenes Insekt, das die Augen fest geschlossen hielt, im Angesicht dessen, verzehrt zu werden. Noch
spürte er die geruchlosen, dimensionsspezifischen Schwaden dieser Nacht nicht, wie sie transpirierend in seiner Haut verschwanden,
die Feuchtigkeit, den Mut, den von Wut und Hass angefeuerten Atavismus zu ersticken drohten. Noch fühlte er sich nicht
dem Verzehr ausgeliefert, aber je vollkommener die Dunkelheit wurde und je mehr die Regungen der Nacht abnahmen, seine Sinne nun
in eine dumpfe, kalte Isolation getrieben wurden, desto mehr litt die Entschlossenheit, sich dem Sinnbild einer ewigen Dunkelheit sowie ihrem
realen Korrelat zu stellen unter einer nackten, von Beiwerken losgelösten Angst. Er spürte es. Wie sie ihn vollständig erfasste und seine
Sinne verklebte. Alsbald blieb da keine Kraft mehr zur Erinnerung, ab und zu schoss das Bild des brennenden Baumes durch seinen Kopf,
er blieb stehen, brüllte in die Nacht wie ein von Feinden umzingeltes Tier. Er brüllte und fauchte, fürchtete die Strafe der Wüste nicht,
sie konnte ihm nichts anhaben, keine Art oder phantasievolle, aphoristische Version von Schmerz zufügen, die er mehr fürchtete, als an diesem Ort bleiben zu müssen.
Er war gerannt. Hatte das einzige Licht zurückgelassen, aber er würde diesen Ort bezwingen, und wenn er schon nicht sterben würde,
er würde sich der vollkommenen Nacht nun hingeben, seine Sinne, seine Gedanken, sein ganzes Sein einer verzehrenden Apathie überlassen,
bis er dem Tode nahe genug gerückt war, um jegliches Bewußtsein für Leben wie ein fauliges, unnötiges Anhängsel von sich abtrennen zu können.
Er würde zu einem bewußtseinslosen, reglosen Sack Fleisch werden, das in die Leere starrt, bis die Tristesse der Nacht seine Seele
in einen konturlosen, wabbernden Teppich verwandelt hatte, in den dann die Geister dieser Wüste nach Freuden Funkeldiamanten und Sterne
einnähen dürften wie in ein schlaffes, knittriges Korsett. Er würde die Wüste überlisten, er würde in ihr sterben auf die eine oder andere Art und
Weise, aber weigerte sich inständig, zu einem machtlosen Opfer einer empfundenen, durchlebten Ewigkeit zu werden.
"David, geh zurück."
Er schrie wie von Sinnen, zutiefst erschrocken. Der Träger dieser Stimme durfte keine vier Meter von ihm entfernt stehen, und er erkannte sie
sofort. Es war das rauhe, traurige Timbre des alten Mannes.
David zog seine Waffe und fuchtelte wild mit ihr in der Dunkelheit.
"Wo bist du?! Wo bist du, du verdammter Mistkerl, ich bring dich um, ich schwöre bei Gott ich werde dich töten!" David tätigte den Abzug
mehrmals, jedoch ertönte kein Schuss. An der Stelle des Knalles jedoch hielt plötzlich etwas ganz anderes Einzug, und der tosende,
vor Wut schäumende David rang plötzlich nach Atem. Er hatte sich geirrt. Das Räderwerk dieser Wüste wusste Stellen zu treffen, derer
Schwäche und Empfindlichkeit er sich nicht einmal selber bewusst war.
Das quängelige, leise Schluchzen eines Säuglings, und David war sich sicher, dass es das gleiche Kind war, das in den Armen
der Frau Zeuge seines ersten Ablebens sein durfte.

Natürlich tat es mir leid. Aber Connie war zu weit gegangen, ich glaube sie hat genau gewusst, wie ich reagieren würde, und hat es in Kauf
genommen. Als wolle sie mir damit beweisen, was für ein kalter Hund ich war. Aber sie sollte es besser wissen, mich besser kennen. Ich
zische die letzte Dose Heineken, setze mich auf den alten Ledersessel und sehe sie an. Wie sie da liegt. Blut hustet. Ich war zwar keiner
dieser schwanzlosen Wichser, die sich daran aufgeilen, sich an Frauen zu vergehen, aber ich lass mich nicht anpissen, auch nicht von dir,
Connie, mein Schatz sage ich ihr, und sie steht auf, hält sich die eingebrochene Wange und spuckt mir vor die Füsse. Was für ein
trauriger, schwanzloser Mann ich doch sei, sagt sie mir, und ich sage Connie, Schatz, sage ich ihr, pflanz deinen süßen Birnenhintern sofort
wieder hin oder du hast eine weitere kleben. Ich könne sie mal, ich sei genau wie er, und sie würde mit dem Kleinen weggehen, brüllt sie aufeinmal,
und ich stehe auf. Vielleicht liegt es meinem strapazierten Nervenkostüm, seit der unrühmlichen, häßlichen Geschichte mit Kristof, zu der
ich mich gezwungen sah. Jedenfalls stehe ich auf, hole aus und treffe. Connie liegt, und der Kleine fängt an zu weinen und scheiße,
zwar regt sich nicht viel in mir, aber das ist zu traurig, zu beschissen trostlos, die ganze Szenerie. Ich habe keine Lust darauf,
die beiden zu quälen, und sie bedeuten mir nicht genug, als dass
ich sie trotz aller Konflikte an mich binden muss. Ich lege das Heineken beiseite, greife in meinen Rucksack und schmeiße ihr drei Bündel
von der Kohle hin. Der Kleine schreit unentwegt, Connie schluchzt, ich schweige und gehe zur Tür, den Rucksack, den Revolver und
meine letzten paar Sachen bei mir, ein Taschenmesser, ein Rechnungsbuch. Dieser Ort will mich nicht mehr, und ich will ihn auch nicht mehr, weder an ihm teilhaben, noch in ihm wohnen.
Ich stehe in der Tür, Connie wirft mir einen schwer zu deutenden Blick zu. Wahrscheinlich hat sie recht, ich bin ein schwanzloser, trauriger
Mann, aber ich kann besseres gebrauchen als eine österreichische, wehleidige Schlampe und einen nutzlosen Quälgeist, die den ganzen Tag
nichts besseres zu tun haben als mir das stetig und immer wieder vorzuhalten.
"Fahr zur Hölle, David.", sagt Connie und ich lächle. Die Kohle wirste trotzdem behalten, du kleine Schlampe, sage ich mir, und just in
diesem Moment war ich zur Tür raus und warf den Wagen an.

Er hatte den alten Mann gefunden. Keine paar Meter stand er rechts von ihm, irgendwie hatte er beim Fuchteln und Schlagen in der Dunkelheit
das Jackett des alten Mannes zu greifen bekommen, und nun zog er ihn an sich und drückte ihm die Waffe an den Kopf.
"Du dreckiger Mistkerl...du hast mich betrogen, mich allein gelassen, ich musste deinen Platz einnehmen!"
"So? Tatsächlich? Aber ich bin doch noch hier, David...", die Stimme des Mannes klang, als würde er lächeln.
"Warum zur Hölle bin ich hier?! Wer zur Hölle bist du?!"
"Lass mich los, David. Bitte. Um deiner selbst willen, lass mich los."
"Fahr zur Hölle!", brüllte der Zurückgelassene und drückte ab, doch die Waffe ging nicht los.
"Hör auf die Wüste nach einem Ende abzusuchen, hör auf dich so zu quälen, mein Junge. Kehre zum Feuer zurück, und fang an am
richtigen Ort zu suchen."
Der Zurückgelassene hielt sogleich inne. David; dachte er, und hatte das plötzliche Gefühl, dass sich der dichte Nebel in seinem Kopf ein wenig
löste. Es gab keinen Zweifel daran, er begann sich zu erinnern. Sein Name war David. Er wusste nach wie vor nicht, wie er in die Wüste gekommen
war, was das für ein Ort war, er weigerte sich, irgendwas zu glauben oder zu schlußfolgern, zu stark hatten ihm seine letzten Irrtümer zugesetzt.
"Wie ein gehetztes, gepeinigtes Tier, nicht wahr, alter Mann?", schluchzte David. Er ließ den alten Mann los.
"Hier."
Er schien ihm etwas hinzuhalten.
"Nimm ihn."
Ein Quängeln ertönte erneut. David steckte die Waffe ein, und obwohl sich alles in ihm sträubte, nahm er den Säugling an sich. Er war zu schwach,
zu müde, um zu widersprechen.
"Mit geballten Fäusten, David. Immerzu, mit bitteren Schlägen gegen die Fassade, die Fratzen brechen ein." Er war sich zutiefst sicher, dass ihn
der alte Mann besser sehen konnte als er ihn. Sehen und Hören schien für ihn keine Rolle zu spielen, er sprach die Dinge aus, die schon seit jeher
im Raum hingen, die David's Leben zutiefst geprägt hatten, Worte, die bereits wirkten, ehe sie ausgesprochen wurden, und David konnte sich
nach wie vor nicht entscheiden, ob er ihn als Sprachrohr einer bestimmten Macht oder Wahrheit oder als eigenständiges Wesen betrachten sollte.
"Und manchmal erwischt es die eine oder andere Fratze zuviel."
"Bin ich in der Hölle?"
"Wenn du es so nennen willst..." Der Mann klang, als würde er einen schelmischen Witz machen. Und David musste plötzlich lachen. Aber aus
anderen Gründen, es schien, als würde die durchtriebene, perfide Hyäne in ihm hochkommen, derer er sich schon bewusst war, ehe er sich an
seinen Namen erinnern konnte. Deswegen waren ihm diese Worte so in Erinnerung geblieben, er war es, von Anfang an, er war das gehetzte und
gepeinigte Tier.
"Fahr zur Hölle, alter Mann.", flüsterte David und hielt ihm denn plötzlich stillen Säugling hin.
"Dieses Gericht, dieses ganze Abstrafen meiner Sünden. Vor meinen Augen fügen sich die Sünden zusammen, die ich begang, den Schmerz,
den ich anderen zufügte...soll mir das leid tun?"
Der alte Mann schwieg.
"Ich fühle mich schuldig, ich fühle diese Reue, diese Scham, alter Mann. Wieviel soll ich noch leiden? Wieviel soll ich noch auf mich nehmen,
ehe dieser Ort ruhe gibt und mich gehen lässt? Was willst du? Was will dieser Ort? Was kann ich noch geben, als all meinen Schmerz, all
meine Last, mein Leid, ich zeige Reue, ich wehre mich, aber ich zeige Reue, ich will doch nur frei sein, oder zumindest in den Tod entlassen
werden."
"Du bist nicht du selbst, David. Hast du immer noch nichts begriffen?"
David schwieg.
"Weißt du immer noch nicht, warum du hier bist? Glaubst du wirklich, dass all diese Worte, die ich an dich richtete, der gehetzte Köter,
die geballten Fäuste, David, glaubst du wirklich, dass das meine Worte sind?"
Er lachte.
Etwas seltsames schwang in diesem Lachen mit.
"Es ist so einfach, David.
Wach auf."
"Es ist die Hölle, nicht wahr? Ich bin schlichtweg tot. Ich bin gefangen in meinem eigenen Sündenpfuhl."
Stille.
"Dieser Ort ist mir als Strafe für die Ewigkeit gegeben worden. In ihm werde ich die Ewigkeit absitzen, für alles was ich getan habe."
Der alte Mann nahm den Säugling an sich.
"Ich akzeptiere. Ich kehre zurück. Ich nehme deinen Platz ein."
David wartete ab, doch die Dunkelheit erwiderte ihm nichts. Der alte Mann war wortlos verschwunden, und das ausgerechnet, als
er sein finales Resümee gezogen hatte. Lag er falsch? Was spielte es für eine Rolle....in ihm erschlaffte alles, jedes Aufbegehren. Dieses
träumerische, unwirkliche Gefühl, das ihn beschlichen hatte seit er in der Wüste aufgewacht war, dieses dumpfe, neblige Gefühl der Irrealität
beendete die Transpiration und fiel über sein Bewußtsein, sein Weltverständnis her wie eine Schlammlawine und erstickte alles vorher dagewesene.
Er akzeptierte.
Wortlos machte er kehrt und machte sich auf den Weg zurück zum Feuer.


Schuld

1.
Er war zur Staffete geworden. Seine Persönlichkeit, oder das, was nach der Amnesie davon noch übrig war, hatte er endgültig aufgegeben. Seine
Vergangenheit, die letzten Versuche, Ordnung in das Chaos seiner Erinnerungen zu bringen, lagen lange zurück. Sein Zeitempfinden war
eingebrochen, der Blick im Feuer konnte erst seit Minuten oder Monaten stattfinden, vielleicht war er einen Tag in der Wüste, vielleicht ein
Jahr. Das spielte alles keine Rolle mehr für ihn, er, der sich David nannte, oder viel mehr David genannt wurde, hatte seinen Platz am Feuer
eingenommen. In ihm regte sich nichts, seine geistliche Landschaft glich einer Steindüne, über deren karge Oberfläche ab und zu ein bedächtiger,
kurzlebiger Hauch der Erinnerung bließ. Einzig seine suggestive Freude an den wärmenden Flammen, an ihrem unberechenbaren, rätselhaftem
Tanz und dem schwachen, gleichmäßigem Pulsieren der Glut hielten am Leben, und es war ein archaisches, roheres Gefühl als simple Freude.
Es war die dumpfe, selbstvergessene Zufriedenheit. Das gefühlslose, erkaltete Ruhen im Selbst, ein Zustand der Apathie, der bewußtseinslosen, entleerten
Ruhe.
So verging die empfundene Ewigkeit.

In diesem Zustand, vor dem Feuer kauernd, bekam er Besuch.
Der junge Mann trat ganz vorsichtig an David heran, sein Anblick musste zutiefst verstörend wirken. David registrierte seinen Besucher, aber würdigte
ihn keines Blickes, obwohl sehr wohl wusste, was sein Erscheinen bedeutete.
Seine Stunde war gekommen.
Er sah auf, erblickte einen dunkelhaarigen, mit beschmierter Latzhose und rußigen Arbeiterhänden Jungen südländischer Abstammung. Vielleicht
ein Mexikaner. Vielleicht aber auch Spanier. Er sah dem ängstlich dreinblickenden Jungen in die Augen, atmete tief ein.
"Setz dich." flüsterte David.
Der Junge hatte jene unergründliche Tiefe in David's Augen wahrgenommen und fühlte sich von ihr bedrohter als vom Revolver, den der alte Mann
vor seinen Augen im Schoss hatte. Er zauderte nicht lange, gehorchte und setzte sich.
David öffnete die Trommel der Waffe, entleerte sie bis auf eine einzige Kugel und sah traurig auf. Er sah den Jungen an, versuchte hinter dieses
Gesicht eine Geschiche zu erahnen, sich vorzustellen, was dieses Gesicht, diese Hände geformt, diesen Jungen zu dem gemacht hatten, was
er war. Sein Sinn für den Menschen, für seine verschlingende Weltlichkeit und seiner Allgegenwart jenseits dieses Ortes kam schleichend und
langsam zurück, aber es war zwecklos. Er würde die Geschichte dieses Jungen nie erfahren.
Er musste das tun, diese Gelegenheit stand ihm zu. Der Kreis schloss sich, er würde als Glied der Kette abgelöst werden.
"Du musst wissen, es ist das einzige was ich tun kann."
Der Junge sah ihn verständnislos an. Dann blitzte etwas in seinem Gesicht auf, seine Züge erweichten, David hatte nicht damit gerechnet,
es war schlichte Besorgnis.
Der Junge schien den Revolver gar nicht wahrzunehmen. Nicht den drohenden Gestus des Öffnen der Trommel. Er sah David lange und tief in die
Augen.
"Sir, geht es Ihnen gut?"
Ein schmerzliches Lächeln huschte über David's Gesicht. Diese Frage brachte ihn seltsamerweise zum Stocken. Vielleicht war es die
unmittelbare Menschlichkeit, die Simplizität und einfache Intension, die dieser Frage innewohnte, die sogar nicht zu dieser Welt, dieser Wüste
und David's Vorstellung von ihr passen wollte. Aber er ließ sich nicht beirren, reichte dem jungen Mann die Waffe, nachdem er die
Trommel gedreht und in den Lauf zurückgesteckt hatte.
"Halt Sie dir an den Kopf.", flüsterte David, und der junge Mann sah ihn an, als hätte er völlig den Verstand verloren.
Vielleicht war es die Müdigkeit, die gebrochene Aura dieses Mannes, aber das Reichen des Revolvers wollte ihm nicht ins Bild einer
drohenden, fordernden Geste passen. Es war vielmehr eine unangebrachtes, verirrtes Angebot, dessen Gründe der junge Mann
erst gar nicht verstehen wollte.
Er nahm den Revolver.
Und legte ihn neben sich.
"Sir, ich frage Sie noch einmal. Geht es ihnen gut? Herr Gott, was machen Sie denn hier? Wie sind Sie hergekommen? Sie sehen vollkommen
erledigt aus, man, warten Sie einen Augenblick." Er öffnete den Reißverschluss am Bauch seiner Latzhose und holte einen Lederbeutel heraus.
"Trinken Sie, man."
David's Gesicht zuckte. Er verstand nicht so recht. Die Worte erreichten ihn nicht, schienen gar nicht ausgesprochen zu werden. Der Mund
des jungen Mannes bewegte sich und schien in einer fremden, ihm unnachvollziehbaren Sprache zu reden.
"Der Revolver...nimm ihn..."
"Alles klar, man, aber erst nehmen Sie nen Schluck."
David starrte auf den Lederbeutel. Er konnte sich nicht wehren, seine Hand schoss plötzlich hervor und griff nach dem Lederbeutel. Hastig
öffnete er den Verschluss und trank, ohne recht zu wissen, was er da tat.
"Sir, fünfundzwanzig Meilen von hier hab ich nen roten alten Pick Up gefunden. Gehört der Ihnen?"
David verschluckte sich, hustete und blickte auf.
Auf den jungen Mann wirkte er in diesem Moment wie ein frisch kastriertes, vollkommen verzweifeltes, die Welt nicht mehr verstehendes
Untier, und in David selbst rief das Wasser, das seine Kehle runterrannte ein ihm vollkommen fremdes, vergessenes Gefühl der Sättigkeit
und Wärme hervor. Sein Körper füllte sich mit Gefühl, mit Leben, David starrte fassungslos an sich herunter. Sein Herz fing an zu rasen,
er fing an zu wimmern. Er hatte das Gefühl, zum ersten Mal seinen Körper zu spüren. Er wusste nicht, ob er dieses Körperempfinden
jemals besessen hatte, wenn, dann musste es unendlich lange her sein, in einer Zeit und in einer Welt, an die er sich nicht mehr erinnern
konnte. Er sah um sich. Die Dunkelheit der Wüste war einem rosanen Dämmerungsgürtel gewichen, der ihn und den jungen
Mann zu umgarnen schien. Plötzlich roch er das Feuerholz erneut, ein Geruch, an dem sich seine Geruchnerven schon so stark
gewöhnt hatten dass sie ihn nicht mehr registrierten. Aber schlagartig erfasste er David in großer Fülle und Intensität. Sein Körper
begann zu beben.
"Sir?"
David hustete und beugte sich vor. Versuchte aufzustehen, und der junge Mann tat es ihm gleich und versuchte ihn stützen. Aber
David riss sich los, stolperte ein paar Meter, ohne seinen fassungslosen Blick von der Feuerstelle zu nehmen.
"Ganz ruhig Sir, es ist alles in Ordnung."
David sah auf, sah an dem Jungen vorbei...hatte jemand was gesagt? Er hustete erneut, diesmal so stark, dass er sich kaum noch
auf den Beinen halten konnte.
Dann explodierte in seinem Magen eine unerträgliche Hitze, und er fiel vorn über hin. Der junge Mann hatte schnell
genug reagiert und fing David's freien Fall auf. In seinen Armen lag er dann, hatte vollkommen das Bewußtsein verloren, die Augen
weitaufgerissen und der Mund war wie zu einem lautlosen Schrei grotesk aufgerissen. Der junge Mann stützte ihn und ließ ihn
zunächt sachte auf den Wüstensand herab. Sein Blick wanderte hastig in der Ferne, als er plötzlich den silbernen Revolver
erblickte.
Er lag da, um ihn herum die Kugeln, die der alte Mann der Waffe entnommen hatte, und dem jungen Mann schien es seltsamerweise,
als hätte dieser Revolver schon immer dort gelegen. Die Flammen hatten nachgelassen und züngelten nicht mehr ganz so stark
wie seit seiner Ankunft an der Feuerstelle, die Glut hatte nachgelassen, vielleicht lag es an dem leichten Regen, der schon
eine ganze Weile unbemerkt fiel.

2.
Ich packe den Kassierer und ziehe ihn unsanft über die Theke. Die Leute sind fassungslos, manche schreien, die meisten
liegen auf dem Boden und wimmern irgend ein unverständliches Zeug, so der Sorte "Herr im Himmel bitte blabla", aber
ich seh's nicht kommen, dass der liebe Herr demnächst durch diese Tür kommt und mir höchstpersönlich die Waffe aus
der Hand nimmt. Also was das angeht, stehen die Leute hier auf verlorenem Pfosten.
Klar haben diese verfickten Donut-Waffle-Houses nicht viel in der Kasse, aber es sollte reichen, um über die Grenze zu
kommen. Peng Peng, ein paar Schüße in die Luft. Ein wenig Geschepper entmutigt die Menschen in solchen Situationen
immer zutiefst, wenn man das oft genug gemacht hat, weiß man, welche Sorte Menschen wie auf so ne Geschichte
reagieren und wer sich hier und da zum Held der Unterdrückten aufschwingen will. Meistens sind das Excops, reaktionäre
Rednecks oder Staubsaugervertreter, deren bis dahin fast unbemerkte agnostische Romantik aufkocht und ihnen
erzählt, jetzt sei ihre Stunde gekommen. Hab schon einige dieser Spinner umlegen müssen, insofern behielten die meisten
recht, ihre Stunde war gekommen.
Ich lass mir den Schlüssel geben und öffne die Kasse. Der gefährlichste Moment, weil man sich auf das Geld und das Öffnen
der Kasse konzentrieren muss. Aber es geht gut. Gerne mache ich das nicht. Ich schalte auf Autopilot, das ist am sichersten.
Sonst überkommen mich noch Zweifel, und das kann ich beileibe nicht gebrauchen.
Ich drehe mich um, und will den Laden mit einem höflichen Hofknicks verlassen, als sich mir diese alte Mann plötzlich in
den Weg stellt.
"Tu das nicht, Junge.", sagt er.
"Wie bitte?", sage ich.
"Leg die Waffe weg, Junge. Du stürzt dich damit ins Verderben, dich und deine Seele und alle, die dich lieben."
"Wie bitte?", sage ich erneut. Keine Ahnung warum. Die Sicherung brennt durch. Wie so oft. Ich hebe die Waffe
und drücke ab. Einen Schuss in den Kopf, zwei in den Bauch beim Vorbeigehen. Der alte Mann ist sofort tot, und auf einmal
fangen die an zu weinen. Zu wimmern wie die Hunde. Ich steige in den Wagen und fahre los. Niemand versucht mich aufzuhalten.

Ich war schon fast zehn Meilen an der Wüste entlang gefahren, als es plötzlich anfängt.
Das Gesicht des alten Mannes will mir nicht aus dem Kopf.
Ich habe in meiner soliden Laufbahn einige Leute über den Haufen geschossen, ich weiß nicht, warum mir der alte Mann
nicht aus dem Kopf will. Ich versuche ihn zu verscheuchen, sein markantes, scharf geschnittenes Gesicht, die vielen
Falten, die jugendliche, vom Alter seltsam verschonte Nase. Aber es will mir nicht gelingen. Das geht so weit,
dass ich anhalten muss.
Ich steige aus dem Wagen, Kotze kommt mir hoch, ich übergebe mich und habe Mühe, auf den Beinen zu stehen.
Auf einmal schießen mir diese Tränen in die Augen, und ich kann nichts tun. Rein gar nichts. Gott im Himmel,
was ist hier los? ( Ich denke nicht, dass der werte Herr jetzt die Interstate entlang galoppiert kommt auf nem goldenen Ross
und mir höchstpersönlich die Tränen sanft von den Wangen wischt, was das angeht stehe ich also auf verlorenem Pfosten. )
Und es will nicht aufhören. Es geht sogar so weit, dass sich mein Magen verkrampft, ich liege gebückt und zusammengekauert
auf der Straße neben Wagen, Beute und Revolver. Und ich weine, ich kann nicht anders, ich weine und weine und es hört
verdammt nochmal nicht auf.
Dieses Gesicht des alten Mannes. Seine väterliche Scheißfresse. Auf einmal sehe ich sie alle, die paar Frauen und die
unzähligen Männer, die meinen unbändigen Wut zum Opfer gefallen sind. Ich habe nicht den leisesten Hauch einer Ahnung,
warum das just gerade einbricht, warum es mich so stark erwischt. Warum mich ihre Gesichter berühren. Der Autopilot
war zwar inzwischen ausgeschaltet, aber ich hatte noch nie damit kämpfen müssen, ich hatte mich nicht mal um diese Kälte bemühen
müssen, sie war mir gegeben, ich hatte nie auch nur einen Gedanken daran verschwendet, was ich anrichte...
Tag ein Tag aus....
Wie ein gehetztes Tier, gepeinigt, getrieben, und geschlagen.
All diese Fratzen, diese feindlichen Fratzen, meine Opfer, diese Fassade, auf die ich Tag ein, Tag aus einschlug,
mit diesen blutigen, geballten Fäusten...und ich weiß nicht mal mehr, warum ich diesen alten Mann umgebracht habe,
es gibt nicht den leisesten Grund dafür, dass ich sein Leben ausgelöscht habe...aber es muss einen Grund dafür geben,
warum mir das plötzlich so unerträglich erscheint....
Der Mensch...einer wie...ich...ein Mensch....WIE ICH.....
Er wird schwach, müde, er wird traurig. Aber er besteht auf sein Recht zu leben. Er besteht darauf und jeder von uns besteht auf sein Hoheitsrecht,
vor seinem eigenen geistlichen Auge gelten zu dürfen, etwas bedeuten zu dürfen. Und dann verschmilzt die Welt vor seinen Augen zu einer feindseligen Masse neidischer,
unnachgiebiger und ungönnerhaften Fratzen, und wir ballen unsere Fäuste, schlagen in diese Fassade ein, getrieben und erregt vom Geruch unseres eigenen Blutes. Wir schließen die
Augen und prügeln wie von Sinnen auf diese Fassade ein, bis wir müde werden, oder bis diese eine, unsere Faust einmal zu oft die falschen Fratzen zerberstet.
Dann suchen wir uns einen ruhigen, dunklen Ort zum Sterben, tätigen vielleicht einen letzten Anruf. Dann warten wir. Und sterben, unerlöst und benebelt....
Ich stehe auf und taumle auf die Prärie zu, bereit zu laufen, bis ich umkippe. Alles erscheint mir plötzlich unerträglich, und ich weiß, dass ich eine rückgangslose Last
gerade in mein Herz gelassen habe, die mich nie wieder verlassen wird. Nie und nimmer. Ich laufe, stolpere, halte mir den Bauch, ich weine, ich laufe, und ich
werde nicht aufhören, bis es so weit ist und meine Stunde gekommen ist, immer weiter in den Rachen dieser gegenstandslosen, ewigen Prärie.
Was Vergebung und diesen ganzen Mist angeht,
stehe ich hier auf verlorenem Pfosten....

....GOTT WAS HABE ICH NUR GETAN......


Ablass

1.
Als er erwachte, saß er auf dem Rücksitz einer alten scheppernden Karre, und der Junge fuhr.
"Ah. Sie sind wach. Mister, ich konnte leider nix mehr für Ihren Wagen machen, da ging nix mehr, Motor im Eimer. Und Sie auch, man, Sie sind ziemlich mitgenommen.
Was zur Hölle haben Sie da draußen gemacht? Ohne Wasser, ohne Nahrung?"
David schwieg.
Ein leichtes Unbehagen schien den Jungen zu erfassen. Er packte das Lenkrad fester und blickte verstohlen mehrmals in den Rückspiegel.
"Ihren Revolver habe ich in der Wüste gelassen, Sir."
David reagierte nicht. Der Wagen hatte keine Fenster mehr, so stürmte der Wind das Innere des Wagens laut und bebend, der Motor ratterte, die Straße war unbefestigt, der
Wagen sprang auf und ab.
"Mein Dad hat immer gesagt, dass ich meine Nase nicht in fremde Angelegenheiten stecken soll...", brüllte er, "...aber ich weiß nicht, Sir, Waffen sind nie gut. Ich hoffe Sie sind
mir nicht böse." Die Art des Jungen hatte etwas so Naives, Unschuldiges und Gutgläubiges, dass es David vielleicht früher in seiner Reinheit provoziert und wütend
gemacht hätte. Aber nun, David erinnerte sich inzwischen an alles, brachte es ihn fast zum Lächeln.
"Nein, passt schon. Hatte das Ding eh schon viel zu lange.", sagte er und richtete sich auf.
Der Junge lächelte.
"Mein Name ist José.", sagte er.
"David."
Sie saßen eine geschlagene halbe Stunde da, ohne ein Wort zu sagen, als José, dessen Unbehagen wieder gewichen war, einen Blick nach hinten warf,
David musterte und anscheinend nach Worten suchte.
"Wo soll's hingehen?", fragte er dann.
David hielt inne. Blickte auf die Prärielandschaft, die an ihnen beiden vorbeizog und hatte die Antwort schon längst parat, aber er ließ Zeit verstreichen,
ließ sich Zeit, die Wüste zu mustern und ihre Landschaft auf sein Gemüt wirken zu lassen. Diese Leere, diese unendliche, vollendete Weite....
"Zur nächsten Polizeistation."
José reagierte ein wenig unbeholfen und warf einen langen Blick in den Rückspiegel. David erwiderte den Blick.
"Zur Polizeistation, Sir?"
David blickte wieder aus dem Wagen.
José stellte keine weiteren Fragen. Die restliche Fahrt über sprachen sie kein Wort.


Ende

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