Sonntag, 1. März 2009

Threads Pt.1 : Rosalia

Prolog


Hastig suchte Rosalia die Straße ab. Ihr heißer Atem beschlug die Scheiben und ließ die Welt
dahinter, Toluca's Straßen und ihre säumenden Blockbauten hinter einem künstlichem, schimmerndem Film verschwinden.
Beigefarbene Straßenlampen und ihre flackernden Leuchtfanäle brachen mit der Nacht, und sobald sich der Film
auf ihren Fensterscheiben verdichtete, hielt sie an, denn ihr Wagen war der einzige auf der Straße, und verschaffte
sich Sicht.
Sie nutzte diese Momente, um den Motor kurz abzustellen und inne zu halten. Sie drängte ihre schiere Verzweiflung
in Ecken zurück, aus denen sie ihr nicht mehr gefährlich werden konnte. Mit jeder Stunde, die sie auf den Straßen
zubrachte, war ihre Hoffnung, Pablo zu finden, geringer geworden, aber Toluca's hektisches Murmeln und der
stetig fallende Regen zogen sie sachte in die Welt zurück. Sie konnte Pablo in ihren Erinnerungen immerzu neu
aufleben lassen, aber die Spuren seines Verschwindens waren hier, in Toluca's Gassen zu finden sowie ihre Gründe
im ruhelosen Fieber, das Toluca über die Menschen gebracht hatte.
Im Schritttempo war sie die Hauptstraße bereits mehrmals auf- und abgefahren. Gegen den Drang, aufs Gas zu treten
und ihrer Ruhelosigkeit Luft zu lassen hatte sie geduldig die umherstreunenden Silhouetten und
Backsteinhäuser gemustert, und ab und zu entwich ihr Pablo's Name in einem heiseren, gepressten Flüstern. Er war
nicht aufzufinden. Weder blitzte er zwischen den schwitzenden, lachenden Gesichtern am Straßenrand hervor,
noch kam er auf sie zugerannt, mit wedelnden Armen, blutüberströmt und verletzt, wie sie es in stiller Furcht erwartete.
Denn seine Art und Weise, den Widrigkeiten des Lebens mit der selbstgerechten Wut eines eingepferchten Tieres zu
begegnen machte ihn erst anfällig für das Wüten des Fiebers, das die Straßen mit dieser unkontrollierbaren
Inbrunst beseelte. Diesen Gedanken anhaftend war Rosalia den Stunden erlegen. Müde, den Tränen nahe umschloss
sie das Lenkrad, drückte unmerklich fester aufs Pedal und entlockte dem Motor ein erschöpftes, knirschendes Geräusch
erhitzten Metalls, aber was Pablo's Namen anging, hüllte sich Toluca weiterhin in Schweigen. Die Gassen murmelten,
die Schatten waren tief,
und sie wusste um die stille Häme der dunklen Schluchten, in denen sie ein- und ausfuhr, weil sie sich
in die lange Liste derer einreihte, die ein Herz, eine Liebe oder ein Leben in dieser Stadt gelassen hatten.
Sie zuckte zusammen, als ein penetrantes, durchdringendes Piepen neben ihr auf dem Beifahrersitz
ertönte. Sie brauchte Sekunden, um das Geräusch als das Läuten ihres Handys zu identifizieren.
Träge kramte sie in ihrer Handtasche und holte es hervor.
"Ja?"
"Ich bin's." Sie erkannte Fernando's sonore Stimme. Er war ihr Bruder und hatte sich bereit erklärt, über
Nacht die Kinder zu sich zu nehmen.
"Es ist verdammt spät, Rosalia, reiß dich zusammen. Ich rufe an, weil sie nach dir gefragt haben,
sie wollen wissen, wo ihre Mutter ist, und sie wollen wissen wo ihr Vater ist. Es würde ihnen gut tun wenn
zumindest einer von euch über Nacht hier ist."
"Er ist hier, Fernando. Ich weiß es. Diese Stadt hat ihn verschluckt."
"Natürlich hat sie das. Sie hat ihn verschluckt, und wie sie es schon unzählige Male davor getan hat,
wird sie ihn wieder ausspucken. Er liegt wahrscheinlich mit dem Gesicht in einer Pfütze oder hält
sich mit letzter Kraft am Tresen. Komm nach Hause, morgen kannst du ihm die Hölle heiß machen."
"Er wird morgen nicht aufkreuzen. Ich weiß es."
Ein ausgiebiges Seufzen am anderen Ende signalisierte ihr, dass Fernando vor ihrer Entschlossenheit
kapitulierte. Er war der ungeduldigere, sie die dickköpfige von ihnen beiden.
Nachdem sie kurz schwiegen, fiel Rosalia Guadalajara ein.
Als seine Frau wusste sie, wie sehr sich Pablo mit dieser
Stadt verbunden fühlte. Er pflegte zu sagen, dass die Geister des Westens Guadalajara nie heimsuchen würden,
weil die unzähligen Kirchentürme in ihrer marmorfarbenen Pracht den Augen der Pächter und Ratten bereits
von weitem signalisierten, dass diese Stadt Gott gehörte. Pablo's Wille zu einer umfassenden, rettenden
Selbstreinigung würde nur diesen Ort zulassen, sofern er sie tatsächlich verlassen hatte. Er würde sein Wissen um
ihre Not in einem Glaubensbekenntnis ertränken, knieend vor einem der vielen Holzkreuze, die in den blechernen
Lampignons an Guadalajara's Straßenrändern standen, um dann weiterziehen zu können. Anders kannte sie Pablo nicht.
"Glaubst du, er ist nach Guadalajara gefahren?"
Erneut ein Seufzen. "Ich weiß es nicht, Rosalia."
"Sollte er mich und die Kinder verlassen haben, wird er nach Guadalajara geflohen sein. Vor sich selbst, vor der Verantwortung, du
kennst ihn, Fernando, er...."
"Wer sagt dass er dich verlassen hat? Herr Gott, Rosalia, was ist denn in dich gefahren, es ist doch nicht
das erste Mal, dass er über mehrere Tage verschwindet."
"Aber keiner seine Freunde hat ihn gesehen."
"Er ist in irgendwelchen Hintertürchen verschwunden. Wie du bereits sagtest, Toluca kann Menschen
manchmal einfach verschlucken."
Schweigen.
"Komm nach Hause, Rosalia."
"Bald."
Sie legte auf und warf ihr Handy auf den Beifahrersitz. Plötzlich, dem Aufwallen ihrer Verzweiflung erlegen,
beschleunigte sie den Wagen stoßartig, schlug die
Zähne aufeinander und presste sich still und atemlos Tränen heraus, die bei weitem nicht genug waren,
um ihrer Sorge gerecht zu werden. Zur Ruhe durch einen inneren, unumstößlichen Imperativ gezwungen, der seinen
Ursprung in ihrer Kindheit hatte, fuhr sie mechanisch mit dem Jackenärmel
über die erneut beschlagene Scheibe und blieb keuchend, kurz davor, die Suche aufzugeben, an einer
Kreuzung stehen.
Die Ampel schlug auf Rot um. Ihr wurde die nahende Abfahrt zur Autobahn Richtung Guadalajara bewusst.
Sie hatte die Wahl. Die Kinder vermissten sie, aber dem Anblick ihrer friedlichen Nachtruhe ausgeliefert würde
sie schier wahnsinnig werden, wenn sie nicht zumindest eine Idee davon hatte, was aus ihrem Vater geworden war
und woher diese neue, gewichtig erscheinende Sorge um ihn herrührte. Deshalb war sie ratlos, und ließ sich Zeit.
Sie blickte auf die dunkelbalu leuchtende Uhr im Amaturenbrett. Es war weit nach Mitternacht, aber der Himmel
blieb dunkel, kein Anzeichen sich anbahnenden, durch die Wolken brechenden Morgenlichtes. Aus einer ihr nicht erklärbaren Intention
streckte sie ihre Hand nach der Uhr aus und berührte das Plexiglas, das sie abschirmte. Ihre Gedanken
kamen ins Stocken, sie bemerkte weder das Umschalten der Ampel noch das anschwellende Regenprasseln.
Vor ihrem inneren Auge formte Pablo's Gesicht ein Lächeln, das in seiner Art nur ihr bestimmt war.
Er stand in der Türschwelle und
war vom Gebrüll der Straßen abgelenkt, sein leichter Bartschatten umrang sein Lächeln, die furchige Narbe auf seiner Stirn
warf einen leichten Schatten. So stand er vor ihr, drei Tage zuvor, ehe er den Wagenschlüssel an sich nahm und verschwand.
Kein glimmernder Blick, keine unruhige Geste, die einen unlauten Gedanken verriet, dessen er sich schämte. Er ist in diesem Moment der
gleiche, unruhige Pablo gewesen, um dessen Liebe sie sich seit einem Jahrzehnt sicher wähnte,
manchmal mehr, manchmal weniger.
An jenem Tag hatte er das Leck im Dach über der Küche den Mittag über repariert. Sie erinnerte sich an das grelle Licht,
das durch das Leck in die staubige Küche fiel und Teile seines Gesichtes erfasst hatte. Konzentriert hatte er gewirkt. Besonnen.
Er hatte dabei in aller Ruhe vier Heineken getrunken,
sich dann aber an einer scharfen Ziegelkante verletzt und war zum Drugstore gefahren, um Bandagen für seine blutende Hand
zu kaufen. Dann kam er zurück, beendete die Reparatur, ehe sie mit den Kindern fernsahen. Trotzig und mit
frecher Lebenslust um sich werfend gingen die Kinder dann ins Bett, und wie die unzähligen Male davor, stand
Pablo irgendwann auf und entledigte sich ihrer Zweisamkeit. Er nahm seine Sachen und verschwand für eine Runde im Porhelhio,
wie sie zu dem Zeitpunkt annahm. Vorher zündete er sich noch im Flur eine Zigarette an. Das war das einzig Ungewöhnliche,
eine kleine Abweichung seiner üblichen Routine, ehe er aus dem Haus ging.
Kein Zeichen sonst, nichts. Rosalia war sich nun endgültig sicher, dass etwas nicht stimmte, denn auch wenn es
seiner Dreistigkeit keinen Abbruch tat, Pablo war ein erbärmlicher Lügner, und sie merkte es jedes Mal,
wenn er etwas Unkoscheres im Schilde führte. Meistens nahm sie es stillschweigend hin und strafte ihn
im Flur, wenn er ging, mit granitharten, eiskalten Blicken ab, oder sie ergingen einander in stundenlangen Schreiarien.
All das schien ihr Jahre zurückzuliegen, und mit einem Schlag sehnte sie sich die sichere, manchmal auszehrende Routine dieses Lebens
mit einer Entschlossenheit zurück, die sie schier krank zu machen drohte.
Das betrunkene Murmeln und Gebrülle der ewig andauernden Feier auf Toluca's Straßen schwoll nun an und drängte Rosalia's Apathie
ein letztes Mal zurück.
Sie erlaubte sich nicht, zu weinen. Denn noch hast du keine Gewissheit, keinen Grund, verletzt, verängstigt oder aufgelöst zu sein, redete sie sich ein.
Schließlich war es bei weitem nicht
das erste Mal, dass Pablo für mehrere Nächte verschwand. Fernando hatte Recht. Aber als sie dieses Mal den Autoschlüssel in die Hand
genommen hatte, um ihn zu suchen, schäumend vor Wut, spürte sie auf dem Weg von der Haustür zu ihrem Wagen eine starke Woge der
Besorgnis, von der sie nicht sagen konnte, woher sie kam. Sie spürte, dass Pablo, wohin er auch diesmal gegangen
war, gegen seinen Willen an diesem Ort bleiben musste. Rosalia glaubte an die tiefe Liebe, die sie trotz aller Widrigkeiten füreinander empfanden,
dass diese ein unsichtbares Band zwischen beide schlug, welches gottbehütet Zeit und Raum überwand und sie in stetiger,
stiller Verbindung hielt, daher schwor sie in Gedanken auf das Leben ihrer Kinder, dass sie spürte, wie Pablo
sich nach ihr sehnte. Aber diese erschlossene Gewissheit um die Treue seiner Gefühle und seiner Gedanken beruhigten
sie in keinster Weise. Vielleicht war sie übermüdet, zerfressen
und aufgewühlt von den schlimmen Szenarien, die sich zwanghaft die ganze Fahrt über ausgemalt hatte. Aber der Teil in ihr,
der glaubte zu fühlen, dass Pablo in genau diesem Moment leiden musste, gewann die Oberhand und traf anstatt ihrer die Entscheidung.
Sie drückte aufs Gas und nahm die Abfahrt zur Autobahn, die sie unumgänglich nach Guadalajara führen würde.

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