Dienstag, 5. Mai 2009

Threads Pt.6 : Kovak

Chris sah dem trägen Fluss nach, der sich unter der Western Bridge hindurch wand und den Fuß der Skyline in weiter Ferne in einer
sachten Kurve streifte. Er lehnte an einem der verwitterten, rostigen Pfosten, die das Fundament der Brücke hielten und durch sie
hindurch in zwanzig Metern Höhe die monströsen Stelzketten trugen. Er starrte seit einer geschlagenen Stunde auf den gleichen,
undefinierbaren Fleck inmitten der dunkelgrünen Gewässer und rang mit formlosen, nonverbalen Gedanken, die um seine persönliche,
ungeschliffene Wahrheit rangen, um seine Sicht der Dinge. Von der Brücke aus, den regen Verkehr im Rücken wohnte er nun
einer Großstadt bei Nacht bei und malte sich ihr ebenso rohes wie unbegreifliches Potenzial an Erwartungen und Gelegenheiten aus,
die ihm grundsätzlich verwehrt blieben.
Gefestigten Willens und hochkonzentriert hatte er das Motel verlassen und ihre Leiche in die Badewanne gehievt. Das Zimmer hatte er nicht abgemeldet, er brauchte nur diesen Ausblick bei Nacht, diesen Versuch der Beruhigung, um seine nächsten Schritte planen zu können.
Er empfand Furcht, aus vielen Gründen, aber
diese eine, vorwiegende Furcht, die sich ihm förmlich aufdrängte, löste gleichermaßen ein Gefühl der Genugtuung in ihm
aus. Als bliebe ihm eine Erkenntnis vorbehalten, die allen Gelegenheiten dieses gläsernen, blinkenden Monstrums
bei Nacht zuvorkam und sich nicht mitteilen ließ.
So drang er von diesem Beobachtungsposten in die verteerten Eingeweide des Monstrums ein, ausgerüstet mit einer lautlosen, ungehörten
Stimme und höhlte die Organe dieser ruhelosen Maschinerie aus. Er entwertete seine Beständigkeit und Urbanität, stand in Gedanken am
Fuße der Müllstrände und Pisslachen, die ihre Geschichten dem blinkenden, wolkenbehangen Firmament vorbrachten und einem konstanten,
im rauschenden Brechen der Wellen verpacktem Wispern das Vortragen ihres Laments auftrugen.
Dort, wo der Fluß über die Betonabgrenzung brach und den Schimmel, den Abfall der Stadt in einer trägen, müden Bewegung immer wieder
einsog und ausspie kulminierte alles. Es war, wie gesagt, in seiner Komplexität so seltsam reduziert, die Zwecke dieser Welt so
pietätlos zur Schau gestellt, und alles schien diesem strikten Kanon der Funktionalität so wundersam ergeben, dass es Chris den
Atem verschlug. Welch schamlose Kohärenz, die sich aus diesem Kanon heraus schöpfte, der weit über die Skyline hinaus hallte und
alles Wispern in sich einschloss und erstickte.
"Ich bin ein wenig neugierig, Chris."
Er erschrak und wich zurück. Für einen kurzen Moment schien es, als ob diese Stimme von allen Seiten auf ihn eindringen würde. Er
sah um sich und registrierte diffuse, vom Scheinwerferlicht verzerrte Schemen eines Mantelträgers, der von der Westseite der Brücke
langsam auf ihn zukam, ruhigen, sicheren Schrittes.
"Wie du es getan hast."
Die Gestalt verschränkte in einer bedeutungsschwangeren, erwartungsvollen Geste die Arme, ohne ihren Gang zu verlangsamen.
Ihre Händen verbargen sich hinter rostfarbenen Lederhandschuhen, sowie ihr
Gesicht hinter einer bleichen, unwirklichen Totenmaske. Ein Hauch schwelgender Unwirklichkeit begleitete jeden Schritt dieses Mannes,
ein zwischen brütenden Lichtkegeln geborenes Pandemonium, ein Bote des Sonderbaren, mit einem krächzenden Timbre in der Stimme, das
den Verkehrslärm mühelos überthronte. Das Gesicht wurde deutlich, es waren die femininen Züge einer gealterten Frau, Züge,
die von einer urzeitlichen Freude an der Grausamkeit zeugten, ein spitz verlaufendes Grinsen aus gebleckten, weißen Zähnen und
schwarzem Lippenstift.
"Wie du es getan hast, mit diesen zarten Händen."
Die Gestalt stand nun direkt neben ihm, und Chris war unfähig, sich zu rühren. Der Geruch alten Leders und teurer Schuhcreme stieg
ihm in die Nase. Ein so erdgebundener Geruch, und dazu dieses Lächeln, das einen wohl an den Pforten der Hölle willkommen heißen
würde. Eine groteske Hitze breitete sich in seinem Schritt aus, Chris traute sich nicht, zurückzuweichen, selbst als aus der Hitze
ein handfester Schmerz wurde und ihm Bilder von Fäulnis und toten Insekten durch den Kopf schossen. Ein leichtes Nieseln hatte
eingesetzt, und der Mann griff wie auf Kommando nach seiner linken Hand und zog sie sachte an sich.
"Du hast sehr zarte Hände, ja die hast du. Ganz bestimmt.", sagte der Mann, lächelte, und bohrte seinen Blick in Chris' Augen.
Chris hatte aufgehört zu atmen. Er hätte sich mit nichts auf der Welt gegen die Annäherung wappnen können, gegen die unerträgliche, einlullende
Zärtlichkeit, mit der diese geschah. Der Mann hatte mit dieser Geste ein intimes, schreckliches Band zwischen sie beide geschlagen,
und Chris war sich sicher, dass ihm eine weitere Berührung durch diese Hände das Leben kosten könnte.
Langsam zog er seine Hand zurück und bemühte sich, die Todesangst in seinem Blick zu verbergen, als
unmittelbar der Schmerz in seinem Schritt anschwoll. Chris hatte größte Mühe, ihn zu verbergen und mied den aufmerksamen
Blick der Gestalt. Die Welt fiel durch ein Raster, dessen einziger Parameter Urangst war, begründet in dieser Fratze.
"Sehr zärtliche Hände, Chris." Der Mann, oder diese Frau, fuhr ihm zärtlich durch die Haare und lächelte ihn mütterlich an.
"Bitte...", flehte Chris, ohne recht zu wissen, warum. Plötzlich riss etwas, in seinem Schoss explodierte die Hitze des Schmerzes. Stöhnend lehnte er an die steinerne
Ballustrade der Brücke und blickte auf die Stelle, von der dieser Schmerz ausging. Ein dunkler Fleck war zu sehen, der sich rasant ausbreitete.
"Ich heiße Kovak. Ich begleite dich ein Stück, wenn du nichts dagegen hast.", sagte der Mann und reichte ihm die Hand. Chris konnte
nichts erwidern, er sackte unter den unsäglichen Schmerzen zusammen und versuchte entgegen der Krämpfe von diesem Seraphen
wegzukriechen. Er wartete nur darauf, dass dieser seine dunklen Schwingen spreizen, ihn an seine Brust holen und mit ihm in
den Nachthimmel entsteigen würde, aber durch den Dunst aus Schmerz und Furcht erkannte Chris, dass diese Gestalt und das
dunkelrote Blut, das sich auf seiner Hose ausbreiteten, allzu real waren. Keine schmerzliche Inauguration, kein Bruch
mit seiner Erdgebundenheit würden stattfinden. Er kroch mitten auf der Western Bridge von einem mysteriösen Mann weg,
der sich Kovak nannte und litt schlagartig Höllenqualen. Die Frage nach dem Warum zerging hinter besagtem Dunst,
und das Wesen, das sich Kovak nannte, reichte ihm nun die Hand.
Chris konnte nicht anders, er ergriff sie, in der absurden Hoffnung, das diese eine Berührung, von der vor ein paar Sekunden
gedacht hatte, sie könnte seine Seele verzehren, diesen schrecklichen Schmerz beenden würde. Und so kam es. Der
lederne Handschuh umfasste Chris' Hand fest, zog ihn hoch, die Wellen des Schmerzes verebbten, und Kovak, wie es sich
nannte,
drückte Chris einen zärtlichen Kuss auf die Lippen.
Seine Hand kräuselte dabei sein Haar, hielt seinen Kopf bestimmt fest. Kovak würde entscheiden, wann der Kuss zu Ende
war, und vollkommen erstarrt vor Entsetzen ließ Chris es über sich ergehen.
Dann hielt Kovak inne, lächelte Chris gedankenverloren an und machte ein paar provisorische Schritte zurück,
worauf sich Chris zu seinen Füßen erbrach.
"Hast ihr deine Händchen um den Hals getan und ganz fest zugedrückt."
Chris schüttelte sich noch unter Krämpfen, da lehnte Kovak bereits verträumt an der Ballustrade und beobachtete das grüne Lichterspiel
auf dem Fluss.
"Sie wird sich gewehrt haben. Auf dich eingeprügelt haben, wie von Sinnen, nicht? Hat an deinen Haaren gezerrt, gekratzt, getreten,
aber du warst entschlossen genug, ihr das Leben rauszupressen. Dann wurde sie schwächer, müder, ihr trüber Blick begann zu
flimmern, das gute Stück starb, unvermittelt. Erwürgt. Mein Gott." Er lachte spitz.
"Welch ein unrühmliches Ende für eine Königin."
Dann beugte sich Kovak zu Chris herab und kräuselte ihm erneut das Haar, verliebtes Zutun, das Chris eine weitere Woge
seines Mageninhaltes entlockte. Er kotzte sich die Seele aus dem Leib, aber als er fertig war, schlug er die Hand
der Gestalt wütend von sich weg, erhob sich und fixierte sie, benebelt und taumelnd. Gleichmütigen Blickes wich
Kovak erneut ein Stück zurück.
"Um ehrlich zu sein...", keuchte er, "...um ehrlich zu sein war sie relativ gefasst. Sie schien nicht sonderlich überrascht."
Hustend, aber gefasster als zuvor schaffte er es sogar, Kovak's Anblick zu ertragen. Er lächelte, und Kovak erwiderte sein
Lächeln.
"Das sieht ihr ähnlich.", flüsterte er vielsagend und blickte mit bedeutungsschwangeren Augen auf die Skyline.
"Um wieviel vollkommener und freier diese Welt ohne sie ist.", sagte er und sah Chris von der Seite aus an, erwartungsvoll,
als müsse Chris die Bedeutung dieser merkwürdigen Aussage vollends verstehen. Dann erfasste eine gewisse Nervosität
den Seraphen, er wusste nicht so recht, wohin mit seinen Händen, bis er sie hinter den Armen verschränkte. Seine Gedanken
schienen zu rasen, er kaute auf der Unterlippe und schien von einem leichten Zittern erfasst.
"Ich...muss dich um einen Gefallen bitten, Chris."
"Wer bist du?"
"Ich muss dich um einen Gefallen bitten, Chris."
Stille. Das konstante Rauschen des Verkehrs. Das Tröpfeln des Regens auf den Schulterpolstern des Mantels, den Kovak trug,
und das Raunen des Windes waren alles, was Chris' unmittelbare Einsicht begleiteten, dass er, ohne auch nur eine Idee zu haben,
warum, alles für Kovak tun würde. Der widerwärtige Kuss brannte noch immer auf seinen Lippen und hatte einen kupferartigen,
metallenen Geschmack auf seiner Zunge hinterlassen.
"Kannst du mich zu ihr bringen?", fragte er, ohne Chris anzusehen.
"Zu ihrer Leiche? Warum?"
Erneut das spitze Lachen.
"Ich muss sie sehen."
"Bin ich tot?"
Schlagartig wandte Kovak Chris seinen Blick zu, und der Ausdruck war nicht zu beschreiben. Jegliches Körpergefühl
entwich Chris plötzlich.
"Bin ich tot? Und du sowas wie mein letztes Geleit, zurück zu meinem größten Vergehen? Ist es das?"
Kovak lächelte, und ein Wagen schlüpfte plötzlich aus dem Verkehr und hielt genau neben ihnen. Der Fahrer war nicht
zu erkennen, verborgen hinter einem Vorhang scheinbar gewollter Dunkelheit.
"Oder träume ich?"
Kovak zog das Leder um seine Hände fest und ging um den Wagen herum zur Beifahrertür. Plötzlich schien er jegliches echte Interesse an
Chris verloren zu haben. "Steig in den Wagen. Bring mich zu ihr."
Wortlos stand Chris eine Weile da, dann gehorchte er und stieg ein, und der Wagen ordnete sich wieder in den Verkehr ein.

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