Mittwoch, 13. August 2008

Sitar

Es gibt nur einen Grund, weshalb es so schwer fällt, sich von falschen Sehnsüchten zu befreien, um ein besserer Mensch zu werden. Die Wahrheit liegt weder im nebulösen, demprimierendem Jetzt noch in der Frische der Idee von Morgen, nicht in der Wechselwirkung zwischen den beiden Zuständen und dem simplen, menschlichen Drang zu streben. Sondern in dem, was im Spannungsfeld dazwischen liegt: Dem Kampf. Im Kampf mit sich selbst. Wenn er zur Gewohnheit wird, wird er zum einzigen Zustand, der Sinn stiften kann, ohne den Blick auf die Welt auf beschämende Weise zu sentimentalisieren. Ist diese Entwicklung abgeschlossen, wird der Mensch ein ausbalanciertes, voluminöses, negatropisches Wirbelfeld, das dazu neigt, seine Umwelt seinen Parametern anzugleichen, und Realität ist somit das, worauf sich der Blick des Menschen schärft, während er rückkoppelnd von diesem Blick auf die Welt geprägt wird, von einer allgemeinen Wirklichkeit kann somit keine Rede sein. Ist die Welt, ihre phänomenale Erscheinung in Bezug auf den Menschen von einem rationalen Geist beseelt? Welcher rationale Geist kann unverdientes Leid mit seinem Vermächtnis, der Schöpfung, vereinbaren? Welcher Zweck könnte ungerechtes Leid und die Kaltblütigkeit der Phänomenalität heiligen?

Die grundsätzliche Phänomenalität von Schmerz ist das wohl widersprüchlichste Axiom der Natur, nur ein blinder, irrsinniger Geist würde die Schöpfung mit diesen Mustern versehen, die ein selbstvergessenes Wüten
dieser Empfindung zulassen. Das Reich der Schmerzen endet nie. Rational ist das, was sich als kausales Resultat halten kann, so sehr das für den Schmerz gilt, wenn er systemtheoretisch betrachtet wird, für seine
empfundene Dimension gilt diese kalte Kausalität nicht. Er ist die unerbittlichste und unverzeichlichste Konstante der Natur. Es ist älter das menschliche Bewußtsein, es war da, bevor wir kamen, und dennoch erinnern wir uns an eine Zeit vor dem Reich der Schmerzen. Eine in ihrer Form vollendete Epiphanie, die keinen Raum, keine Zeit kennt, hat ihr leuchtendes Plasma in unserem Bewußtsein verankert, und die materielle Erscheinung dieser Welt ist das Gefängnis, was uns vom Ursprung dieser homoplastischen, zeitlosen Entität trennt. Aber diese Schöpfung, dieses Sein unterliegt Gesetzen, die die Schwachen erst recht angreifen, die Hilflosen in den meisten Fällen dem Blutdurst ausliefern und in seltenen Fällen echten Schutz erfahren lassen, diese Welt kennt keine Gnade, mit niemandem, und die menschliche Natur und der temporäre Zeitgeist seiner Erscheinung sind nur Medien dieses irrationalen Geistes. Für ein Leben im Diesseits tragen diese Gedanken nur zur Entfremdung bei, aber die Welt verdient das vernichtende Urteil des einzelnen, sie verdient es, an den Pranger gestellt zu werden, denn nichts ist zynischer als das kategorische Einverständnis mit dem Sein. Nichts und niemand, keine regulative Idee, kein Theorem, ob humanistischer oder religiöser Natur darf dieses Leid heiligen oder gar mit einem Zweck, einem Sinn versehen, nicht im Makrokosmos und erst recht nicht im Mikrokosmos, das ist geistliche Barbarei. Es gibt keinen freundlichen Tod, keinen Kodex, keine Maxime, die ein gutes und sicheres Leben garantieren können. Der Mensch hat das Risiko, zu jeder Sekunde von Natur und Schöpfung übermannt werden zu können, nicht verdient. Und doch umgibt ihn dieser fade, bittergraue Geist zu jeder Sekunde seines Daseins. Ist es da so schrecklich undenkbar, den Geist, der die phänomenale Welt erschaffen hat, als böswillig darzustellen, als blind, als wahnsinnig, ihm ins Gesicht zu spucken und zu sagen: Deine Versprechen bedeuten mir nichts, wenn sie aus deinem göttlichen Mund gekommen sind, ich leide, und mit mir unzählige andere, und es gibt nichts, was du zu deiner Verteidigung vorbringen kannst.
Es ist die empfundene Dimension von Leid, die die phänomenale Welt unverzeihlich macht.

Vielleicht tobt ein Krieg zwischen einer außer Kontrolle geratenen Schöpfung und einer erkenntnistheoretischen, geistlichen Energie. Vielleicht stehen sich diese zwei Elemente als Entropien gegenüber und wollen sich
gegenseitig neutralisieren. Die Vielfalt des materiellen Entropie ist unfassbar, aber kein zwangsläufiges Indiz für ihre Unzerstörbarkeit. Vielleicht sind all die dualen Prinzipien der kosmischen Ergänzung in ihrer Mannigfaltigkeit ein Erfahrungselement a priori für die wahre Natur des Seins, die uns daran erinnern soll, dass die materielle Welt endlich ist und der uns zugewiesene Platz in der Schöpfung nicht gerechtfertigt, nicht geheiligt ist, dass wir Sklaven der materiellen Schöpfung sind.
Bis diese Fragen beantwortet sind, empfiehlt es sich zu leben, was der Körper hergibt und zu lieben, was das Herz hergibt. Wenn wir schon angekettet sein, kann es kein schöneres ästhetisches Prinzip geben als: Sei glücklich! Und schenke soviel Liebe, wie es dir möglich ist, und setze alles daran, das Leid um deinen Mikrokosmos zu lindern und Freude, Zuversicht zu stiften, und somit dieses Reich, dieses schwarze, ölige, bittere Gefängnis an seine Endlichkeit zu erinnern.

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