Dienstag, 5. August 2008

Pandoram Stream Pt. 2

Der 1. Irrtum

1.
Er war noch immer da.
Die Waffe war nicht losgegangen, der Lauf hatte ihn verschont, und obwohl er sich so sicher gewesen war, dass sein Hirn über den Wüstensand verteilt und sein
Leben beendet würde, saß er reg- und atemlos nach dem Klicken der Waffe da, höchst lebendig, und er fühlte sich seltsam betrogen.
Er klickte ein weiteres Mal, und erneut blieb es still, sein Kopf explodierte nicht.
Bevor ein weiteres Mal den Abzug tätigen konnte, entriss ihm der alte Mann die Waffe und legte sie zurück in seinen Schoss.
So frisch seine Interpretation der Ereignisse war, er hatte sie sofort und zutiefst bereitwillig in sich aufgenommen, er hatte das Gefühl, der ganze Restbestand seiner Existenz hing
an diesem empfindlichen Faden jener Erkenntnisse. Und die folgende, vom Knistern des Feuers unterlegte Stille brachte dieses erkenntnistheoretische Gerüst
zutiefst ins Wanken.
Lag er falsch?
War da keine Scham? Kein naturalistisches, kausales Emporkommen inmitten dieser Wüste?
Er hatte den alten Mann als unverrückbare Instanz anerkannt, wie er da saß, an jenem königlichem Feuer, mit dem silber verchromten Zepter seines tiefen
Verständnisses, als Werkzeug einer Gnade, die ihm zuteil wurde. Er hatte separiert, sein in dieser Wüste gemündetes Schicksal als trotzige, gottlose
und empirische Tatsache anerkannt. Hatte dem kosmischen Gericht eine klare Absage erteilt. Aber die Herkunft des Mannes, die Herkunft der Gnade,
die ihm zuteil wurde, nahm er hin, als hätte der gegeißelte, gehetzte Blinde eine Quelle der Wärme gefunden, und ohne zu hinterfragen würde er sich ihr
hingeben. Wie fadenscheinig, feige und oppurtinistisch diese Denkweise war, wurde ihm nun bewusst, und obwohl er sich selbst dafür vergab, er war
zutiefst verunsichert und fühlte sich zurückgesetzt. Aber der Gedanke, so schnell wie möglich diese Wüste zu verlassen und zu überleben war auf
seltsam selbstverständliche Art und Weise in den Hintergrund gerückt. Die Konfrontation mit dem alten Mann erschien ihm auf intuitiver Basis so viel
wichtiger als das bloße, plumpe Kämpfen ums Überleben.
Halluznierte er womöglich doch?
Stimmte es? War dies eine in seinem Unterbewußtsein organisch herbeigeformte Allegorie, ein Schauplatz eines Gerichtes, so vollkommen auf ihn ausgerichtet,
dass ihre Homogonität als klarstes Indiz ihrer Irrealität herhalten konnte? Er war ratlos, vielleicht dachte er zuviel.
Wie kam er auf diese Gedanken? Was trieb ihn in ihre Arme?
"Du musst wissen...", sprach der alte Mann erneut, "....dass das alles ist, was ich tun kann."
Der alte Mann lud die Waffe plötzlich nach. Nachdem er eine Zeitlang mit gesenktem Kopf geruht hatte, ohne ins Feuer zu starren, hatte er urplötzlich den Revolver
gepackt, wie von einem starken, heftigen Impuls zu einer Handlung gezwungen und holte die Kugeln einzeln aus ihrem Futter hervor. Die Trommel stand offen,
glimmerte im Angesichts der lodernden Flammen vielversprechend und voll ambivalenter prophezeilicher Kraft, und er schob die Kugeln langsam und entschlossen
in die ihnen zugedachten Löcher. Als die Trommel voll war, warf der alte Mann sie zurück und wand sich.
Blickte dem Mann tief in die Augen. Zwischen ihnen lag ein Meter, und er positionierte den Revolver genau zwischen sie beide.
Stille.

2.
"Erschieß mich."
Der Mann zuckte zusammen, als ob ihm diese Worte einen unsichtbaren Schlag verpasst hatten. Diese Welt hatte sein Verständnis für Gnade und die
Interpretation seines Platzes in dieser Wüstenwelt mit diesem Ausspruch des alten Mannes endgültig zerstört. Ihn erschießen? Wie konnte das sein?
War er es nicht, dem diese Kugel galt?
"Erschieß mich, oder ich erschieße dich.", flüsterte der alte Mann, und zum ersten Mal drang so etwas wie eine tiefe, gräßliche Wut durch den Klang
seiner Stimme hindurch. Er war plötzlich mehr als eine konstante, rätselhafte Instanz, auf einmal wirkte er wie ein zutiefst gedemütigter und
unsäglich wütender alter Mann. Seine Augen tränten vor Wut, er ballte die Fäuste und blickte seinem Gegenüber fest in die Augen.
Der Mann stockte. Rang um Worte. "Ich..." Er sah auf den Revolver, blickte zurück zum Alten, Schweiß schoss zwischen seinen Fingern hervor und
rannte über seine Stirn. Er spürte sie, die Angst, der Unglaube, der ihn überkam, als die Hitze seine Kehle hatte explodieren lassen, als der Regen
ihn mit einer Schlammlawine begraben hatte, und der Revolver und die Wut des alten Mannes reihten sich nahtlos in ihre Kette ein. Nicht nur hatte
seine Regel ihn in diese Welt gefüht, vielmehr kannte diese Welt seine Regel, nach der er gelebt hatte, dachte er plötzlich, sie kannte sie viel besser als er selbst,
er, dessen Erinnerungen nur aus Schnipseln, Gerüchen, Bilder- und Wortfetzen bestanden hatte. Er litt unter Amnesie, er lag im ( Koma ), ------>
"jene grinsende Allegorie", flüsterte er, ungläubig blickte er zur Waffe hinunter, er schluckte, Todesangst packte ihn,
"Erschieß mich oder ich erschieße dich..."; zischte der Mann plötzlich in einem inhumanen Tonfall, tief, grollend, er hatte den Eindruck, dass dies nicht mehr
die Stimme des Alten war, es war die Stimme des Feuers, das ihn zugrunde gerichtet hatte, des Regens, der ihn erstickt hatte, es war die Stimme dieser
Wüste, gerichtet an ihn. Er roch Feuerholz, sah dem alten Mann in die Augen,
dachte nicht daran, dass seine Todesangst, seine kümmerliche, gräßliche Furcht die lodernde Wut des alten Mannes besänftigen konnte, aber er
würde sich nicht wehren, weil es seine Bestimmung war, von der Hitze verzehrt, vom Regen ertränkt, von dieser Kugel gerichtet zu werden. Er wusste es,
deswegen hatte er so bereitwillig den Lauf an seine Schläfe gelegt. Die Wahl zwischen Leben und Tod war eine Farce, die Wut des alten Mannes die Zügelpeitsche, die ihn hetzen sollte,
und seine Finger wurden ruhig, sein Puls auch, diese Welt hatte ihn gefangen, ihn an Zyklen der Niederrichtung gefesselt.
Der alte Mann keuchte. Allein der Anblick seines bebenden Zorns vermochte sein Herz zum Stehen zu bringen.
Dann hielt er kurz den Atem an.
Der Mann verstand, dass dies nun seine letzte Chance war.
Er ließ seine Hände ruhen.
Der alte Mann atmete tief und langsam aus, griff zum Revolver, hielt sie auf Kopfhöhe seines Gegenübers, auf die Mitte der Stirn gerichtet.
Er sprach kein weiteres Wort. Brachte keine erklärende Geste hervor. Alles, woraus der Alte nun mehr bestand, war schäumende Wut.
Er drückte ab,
und der Mann spürte für einen unfassbaren Bruchteil einer Sekunde, wie seine Stirnwand einbrach und ein Fremdkörper seine Hirnwindungen
in Fetzen riss. Die Augen hatte er geschlossen, als er vermeintlich aufhörte, zu leben, mehr noch, als seine Existenz von der Wut des alten
Mannes niedergemäht wurde.
Dieser legte die Waffe zurück in seinen Schoss und blickte ausdruckslos in die knisternde Glut. Seine Wut hatte ihn im Moment des Abdrückens
augenblicklich verlassen und ließ den Ausdruck des gedemütigten, geprügelten Köters zurück, das schimmernde, gräuliche Morgenblau jedoch
blieb.


Der 2. Irrtum

1.
Er keuchte.
Erneut auferstanden. Er blieb liegen. Starrte ins Wolkengrau, rührte sich nicht. Er wusste nicht, ob er überrascht sein sollte. Vielleicht wütend. Was auch immer
angesichts seiner erneuten Wiederauferstehung angemessen wäre, er ließ es ausbleiben, der Phönix ging über in ein Stadium vollkommener Apathie. Jede Bewegung
war überflüssig, sinnlos, ihres Zweckes beraubt worden. Zurückgesetzt war er, der Phönix. Nur das Knistern des Feuers hallte in seinem Kopf wider, und als er die
Augen schloß spürte er plötzlich, dass die Anwesenheit des alten Mannes der Vergangenheit angehörte. Er war alleine, das wusste er. Nur er und das Feuer.
Langsam richtete er sich auf, fuhr sich durch seine Mähne. Sand rannte seine Schlefen hinunter, er spürte die Stoppeln in seinem Gesicht, die Trockenheit
seiner Haut. Vorsichtig berührte er seine Stirn.
Keine Wunde, nichts.
Ein etwaiges Funkeln erhaschte plötzlich seine Aufmerksamkeit. Der Revolver lag an der Stelle, wo der alte Mann gesessen hatte. Halb eingegraben, als
wäre sie von ihrem alten Besitzer in befreiter Zuversicht zurückgelassen worden, als stelle sie eine symbolische Last dar, derer man sich entledigen musste.
Aber für ihn war sie nun der einzige greifbare Gegenstand, der einzige materielle Bezug, den er hatte abseits stringenter Domänen der Trockenheit und Endlosigkeit.
Der Himmel hatte sich unmerklich verdunkelt. Der Eindruck eines in die Länge gezogenen, träumerischen Morgengrauens war dem Eindruck einer endzeitlichen
Dämmerung gewichen. Wieder grollte der Himmel hier und da, aber er, der Zurückgelassene, wusste mit absoluter Bestimmtheit, dass diesmal kein Regen fallen würde.
Er nahm den Revolver an sich, aus irgend einem Grund erhob er sich. Seine Knochen waren schwer, er war müde, als hätte er zu lange geschlafen und nicht als
hätte ein alter Mann just gerade sein Hirn mit einer Kugel aus diesem Revolver zerfetzt. Plötzlich überkam es ihn, er wollte auf Nummer sicher gehen
und öffnete die Trommel. Eine Kugel fehlte. Er war seltsam beruhigt.
Er ging ein paar Schritte, den Halfter der Waffe mit seinen schlaffen Fingern umschlossen und blickte um sich. Wo auch immer er war, das Feuer musste
so etwas wie einen Linchpin, einen Kernpunkt dieser Welt darstellen. Von hier aus konnte er die Ferne dieser Wüste besser begreifen. Nie würde es ihm
in den Sinn kommen, seine Kraft zu mobilisieren und loszulaufen. Er hatte verstanden, dass diese Wüste kein Ende hatte. Ohne den konkreten Gedanken
durchlaufen zu haben, hatte er seine Zweifel an diesen Ort, an seine Bedeutung revidiert. Er musste halluzinieren, musste in einer Schleife der Wahrnehmung geraten sein,
aber sein Glaube daran, dass er an diesen Ort gehörte, war nun unerschütterlich. Der alte Mann hatte sein Urteil gesprochen und war gegangen.
Es sei denn.....
Plötzlich hielt er inne. Warf einen Blick zurück auf die Feuerstelle, dessen Flammen zu keiner Sekunde schwächer zu züngeln schienen. Ein ungeheuerlicher Gedanke
überkam ihn, als er an die Wut, an die Verzweiflung des alten Mannes zurückdachte. Wie wenig er sich diese im Grunde erklären konnte.
Er war davon ausgegangen, ihn als ihm zugewiesene Instanz zu verstehen, die jene
deterministische Analogie zum gehetzten Tier herstellen sollte und ihn mit einer Erkenntnis füllen sollte, die ihn ewig an diese Wüste zu binden hatte. Er hatte
gespürt und angenommen, das Warum seiner dunklen Nichtigkeit überlassen und sich der Kugel gefügt, und bei all dem war er davon ausgegangen, dass
dieser Ort seltsam auf ihn ausgemünzt war. Er hatte jene gräßliche, unerträgliche Scham in sich selbst erkannt und in ihr ein Schlüsselerlebnis gehabt,
das finale Gefühl, das sein Schicksal vollendete und ihn hinnehmen ließ, an diesem Ort verbannt zu sein.
Auch wenn er nicht verstand, woher die Scham stammte, es spielte für ihn keine Rolle. Er nahm hin.
Aber plötzlich...plötzlich sah er das Gesicht des alten Mannes vor sich, diese gräßliche unerträgliche Qual in seinen Augen, diese Müdigkeit, die hervorkam,
nachdem diese stoische Unnahbarkeit weggebrochen war.
Es ging um diesen Ort.
Das Gefühl, eine bedeutsame Erkenntnis zu haben, war inzwischen seltsam dialektisch, aber diesmal fühlte es sich ungeheuerlich an.
Der alte Mann hatte ihn betrogen.
Die leere Feuerstelle, deren Flammen den Gezeiten der stagnierenden Fäulnis dieser Wüste getrotzt hatten, sprachen plötzlich Bände. Er und der alte Mann
hatten keine Verbindung, hatten nie eine gehabt! Wie er selbst, musste auch der alte Mann an diesem Ort gefesselt sein, wahrscheinlich so viel länger als er...
daher der Wahnsinn, die Verzweiflung in seinen Augen, dieses Meer aus Trauer und Unzuversicht, in dem sein Blick badete, dieses väterliche, gutheißende
Lächeln um seinen Lippen hatte er selbst, der Zurückgelassene, falsch ausgelegt, es war eine pure Erleichterung! Ein Ausdruck ewig herbeigesehnter Erlösung! Der alte Mann hatte auf
ihn gewartet, aber nicht, um mit ihm eine tiefe Wahrheit zu teilen, sondern weil der alte Mann wusste, dass er sein einziger Schlüssel war, diesen Ort
zu verlassen!
Die Feuerstelle war leer. Die Wüste war unendlich. Und wenn er nicht irgendwo begraben unter einem Sandteppich lag, aus unerfindlichen Gründen
erneut gestrandet in der Wüste, dann war er nicht mehr hier, er hatte die Wüste verlassen, und als der Zurückgelassene diesen Gedanken zu Ende
führte, stolperte sein Herz und ihm wurde plötzlich bewusst,
dass er mit dem alten Mann den Platz getauscht hatte.
Ein ungeheures Zittern erfasste seinen Körper, er ließ den Revolver fallen...
Wie konnte ich nur so töricht sein.......
Es hatte keine kausale, naturalistische Konsequenz seiner Lebensregel gegeben. Es hatte nie eine materialisierte Allegorie oder gar ein Strafgericht gegeben, nein
dieser Ort ruhte in sich selbst und kristallisierte sein glimmerndes Dämmerungslicht niemals um die Seelen der in ihr Gestrandeten herum, diese
Unendlichkeit wurde nicht um das Bewußtsein herum errichtet, sondern dieser Ort existierte um seiner selbst willen! Es war eine düstere, unbegreifliche Dimension,
die Gestrandete verschlang und mit ihnen spielte und keine vom Schmerz und Schicksal einer Seele abhängige, unterbewusst zuammengeschusterte Allegorie.
Eine unabhängige Dimension mit eigenen Regeln, mit einem Selbstzweck! Und der alte Mann musste das verstanden haben, und er musste auch verstanden haben,
dass der einzige Ausweg aus diesem Ort in der Macht des Revolvers lag, vielleicht war ihm das gleiche widerfahren, vielleicht war er selbst ein Glied in einer
bereits ewigen Kette der Gestrandeten, die aufeinander trafen und den Revolver, den Tod und das Gefängnis dieser morbiden Wüste aneinander weiter reichten,
ein Staffetenlauf der Ewigkeit, eingeführt für einen selbst durch das Ritual der Reinigung, durch Hitze und Feuer, und durch Kälte und Wasser...es musste so sein!
Wie kann es sein, dass er nicht durstete? Dass er die Hitze, die Kälte, die Kugel überlebte? Dafür konnte es keine natürliche Erklärung geben, das war nicht sein
Körper, er sah durch die Augen seiner Seele, die in einem Höllenkreis gefangen war, irgendwo verlaufen in der Hierarchie des Jenseits, an einem Ort gebunden,
der sich einen Dreck um seine Geschichte scherte, alles und jeden in sich aufnahm, der unglücklich genug war, in ihre Fängen zu geraten...wie auch immer ihm das
widerfahren war...und der alte Mann hatte ihn an seine Stelle gesetzt, indem er ihn erschossen hatte.
Daher der Ausspruch, es sei alles, was er tun konnte. Beiweilen, niemandem konnte wohl bei dem Gedanken sein, jemandem eine ewige Einsamkeit aufzubürden,
auch wenn die eigene Erlösung damit einher ging.
Eine ungeheure Müdigkeit erfasste ihn. Als er sich das Lächeln des alten Mannes in einer hektischen Bildsequenz nochmal vor Augen führte, lösten sich seine
Kräfte, und er brach zusammen.



David

1.
Es hatte nicht viel gefehlt. Das heißt mitunter, nicht viel Zeit, und er verlernte, zu sprechen. Anfangs hatte er sich damit begnügt, Hoffnungen aus den Litaneien
zu schöpfen, die er direkt an die Wüste gerichtet hatte. Prosaische Eskapaden, aus einer schwer zu erklärenden Intension heraus ästhetisch zusammengefügt
und einem Reimschema unterworfen. Vielleicht wollte er der Wüste schmeicheln, denn er hatte schon längst die Grenze zur Personifikation überschritten,
grub er seine Hände in den Sand, hatte er das Gefühl, in den Eingeweiden eines unermeßlich großen Organismus zu wühlen. Er hatte Löcher gegraben, metertief,
mit seinen bloßen Händen, den Revolver stets zwischen Gürtel und Hose geklemmt, einmal geriet er so tief in den Geweiden der Wüste, dass er tagelang Mühe hatte,
aus dem Loch herauszukommen. Hin und wieder regnete es leicht, aber nie so stark, dass das Knistern der Flammen irgendwie beeinträchtigt werden könnte.
In jenen Stunden, als er in der Grube verharrte, schaffte er es, kurzzeitig erstaunlich klar zu denken, vielleicht, weil ihm der Anblick der Weite erspart blieb. In diesen
Momenten begnügte er sich damit, sein Gesicht zu betasten, er legte seine Kleider ab, befühlte seinen Körper, spürte, wie die Zeit ihn ausmergelte. Seine Kehle und
sein Magen blieben stumm, aber der Körper litt wie unter einem stark verlangsamten, aber unaufhörlichem Prozess der Fäulnis, den er nicht aufhalten konnte und der
ein etwaiges, zwar ungeheuer qualvolles aber immerhin mögliches Ende in Aussicht stellte.

Er befühlte sein Gesicht, den wachsenden Bart, die langen Haare, umfasste die dürren Ärmchen, streichelte die eingefallenen Wangen. Sein Glied erschien ihm
wie ein fremdartiges, disfunktionales Ungeheuer, das den Prozess des Niedergangs am ehesten widerspiegelte, seine Hände waren zerschlissene, von tausend Falten
und Wunden überzogene Krallen, bisweilen verkrüppelt durch die schief zusammengewachsenen Brüche, die er sich einholte, als er, manisch und besessen vom
Gedanken, der Wüste mit dem Graben des Loches Schmerz zufügen zu können auf Steine traf. Auch in diesen Momenten wich er weinend zurück, als hätte die
Wüste ihm eine schallende Ohrfeige verpasst.

Einmal erwachte er aus seinem Halbschlaf, weil er sicher war, zu hören, wie sich zwei Wüstenkatzen über die Prärie hinweg jagten. Er sah ihre Silhouetten in der Dunkelheit,
rannte wie von Sinnen auf sie zu, doch der Sprint hatte ihn wach gemacht, und mit einem Schlag, obwohl ihr Fauchen noch nachhallte, glotzte ihn die ewige Dunkelheit
verwundert an und von den Katzen fehlte jede Spur. Er sah eine in der Luft schwebende Kette aus sechs metallenen Kugeln, die sich zu verschiedenen geometrischen Formen
und Raumvariationen zusammenfügten und ihn zwei Wochen lang verfolgten. Sie gaben ein konstantes, leises Summen von sich und schienen, obwohl bis auf dem Feuer keine
andere Lichtquelle vorhanden war, ein silbernes, flackerndes Licht zu reflektieren. Erst war er vehement geflohen, aber er ertrug es nicht sonderlich lange, vom Feuer getrennt zu sein,
denn die Feuerstelle war die einzige Quelle von Licht und Wärme, die er hatte, und desto mehr er sich von ihr entfernte, desto mehr spürte er, wie unsäglich kalt die
Wüste geworden war, wie unsäglich dunkel sie war, wie der unmittelbar anstehende Anbruch der Nacht. Irgendwann fasste er allen vorhandenen Mut und berührte eine der Kugeln,
worauf die gesamte Formation zu Quecksilber schmolz und im Wüstensand verrannte. Der Anblick der zerfließenden Kugeln wiederrum brach ihm aus einem ihm unerfindlichen
Grund das Herz, schlagartig hatte er das Gefühl, in den anfänglichen Schock und der Unfähigkeit, zu akzeptieren, zurückversetzt worden zu sein, und er weinte
bitterlich mehrere Tage am Stück. Als er dann irgendwann, erschöpft und innerlich zersetzt, einschlief, träumte er, klarer und deutlicher als je zuvor.


"David, komm da runter. SOFORT!"
Ich kann sie sehen. Die blöde Tante. Meine Finger hält sie da immer drinnen, wo sie das Brot backt. Aber ich hab keine Angst. Ich kann ihn sehen,
den Traktor, vom Onkel. Der schaut die Tante immer an, als wolle er sie beißen, aber mich beißt er auch. Ich komm von hier nicht runter, das ist ein
Baum, und der ist rot, und er ist mir. Ich will hier nicht mehr sein, aber sie zwingen mich. Eines Tages werd ich von hier fortgehen, und ich werde
Papa finden, ich werde Mama finden, ich werde ganz unhöflich sein, so wie die dunklen Muskelmänner, die die Tante immer bezahlt, damit
sie den Garten machen ( Die Tante hat den größten Garten, den ich JE gesehen habe ), und ich werde ihre Finger da rein halten, wo man Brot backt.
So wie es die Tante mit mir macht. Alle haben viel, und ich will auch was davon haben, die Tante sagt, der Baum gehöre mir nicht, jetzt
brüllt sie, dass sie mir weh tun wird, wenn ich nicht sofort runterkomme, aber die Tante ist so blöd, die weiß gar nix, dass mir der Wald mir den
Baum geschenkt hat. Mein eigener, roter Baum, und die Tante wird schon sehen, blöd gucken wird se, wenn ich ihr auch die Finger da rein halte,
wo sie das Brot macht, bis die Finger rot werden.


2.
Vielleicht war es das schönste, was er je gesehen hatte. Dass es zumindest das schönste war, was er seit seiner Ankunft in der Wüste gesehen
hatte, dessen war er sich sicher.
Der majestätische Stamm des Baumes ragte aus dem Feuer wie eine in Urglut geborene Lotusblüte und überragte alles. Der Stamm entsprang
der tiefen Glut und hatte ihre Farbe angenommen, jenes pulsierende, feurige Rot. Auf dem makellosen Verlauf der dicken, undurchdringlichen
Rinde wuchsen Äste aus gerötetem Fleisch, die wie Arme aussahen, gesprenkelt und mit erhitztem Wunderschorf übersät, wie abgesprengte
Gliedmaßen sahen sie aus, und die Finger waren schlaff und leblos. Oben auf dem Stamm saß die vom plötzlich starken Wind erfasste
Baumkrone, ein glutrotes, volles Blätterwerk und die ganze, überragende Haltung des Baumes schien ihn zu grüßen, den Zurückgelassenen,
wie bei einer Ankunft nach langer, beschwerlicher Reise.
Er griff mit seinen Händen nach der makellosen Rinde, beugte sich über das Feuer und ließ sich von den züngelnden Flammen verletzen. Er
berührte die Rinde und fing an zu stöhnen, spürte, dass der Baum leicht vibrierte und diese leichte, unmerkliche Schwingung auf seinen
Körper überging und eine leichte Erregung hervorrief. Sie war nicht sexuell, viel mehr ein starker Schauer, ein erbarmungswürdiger,
frischer Hauch von Bewegung und Wärme, der seinen Körper durchströmte und ihn breit grinsen ließ.
Plötzlich erzitterte der Baum, erschrocken wich er zurück und musste nun mitansehen, wie die Flammen in die Höhe schossen und das
Blätterwerk erfassten. Mit einem Schlag loderte der Baum auf, fing an zu glühen und wie eine grelle, anschwellende Sonne aufzugehen,
die Hitze drang den Zurückgelassenen zurück und entlockte ihm ein verzweifelt gehauchtes "Nein....", eine bitterliche Geste der Ablehnung
des Unvermeidlichen. Erschrocken und geblendet, von unsäglicher Hitze erfasst versuchte er sich zu schützen und gleichzeitig eine Möglichkeit
zu finden, das Lodern dieser Flammen zu unterbinden, den Tod dieses Baumes zu verhindern.
Er schlug mit seiner alten Jacke auf die Flammen ein, aber es war hoffnungslos. Mit tränenüberströmtem Gesicht musste er letzten Endes
zurückweichen, um nicht von der Gewalt des Zusammenbruchs erfasst zu werden, als der Stamm des Baumes plötzlich einknickte,
unzählige grelle Funken in die Höhe schossen und das Blätterwerk in einer einzigen reißerischen Bewegung von der Krone losgelöst und
nahezu einheitlich vom Wind in die Ferne getragen wurde. Als hinge sein ganzes Herz an diesem Baum, lag er nun in sicherer Ferne
zu dem Schauspiel auf den Knieen und brüllte unentwegt, als könne er damit der Zerstörung des Baumes etwas entgegensetzen.
Aber ehe er sich versah, war das Schauspiel vorbei, ein paar letzte Funken stiegen in die Höhe, das erloschene Blätterwerk verlor sich in der
Ferne und der eingebrochene, einst so majestätische Stamm heizte den Flammen ein. Der Baum war tot, der Blick des Zurückgelassenen
von einer schleierhaften, unergründlichen Leere beseelt.
Fassungslos starrte er auf die Flammen.

Wenige Sekunden später war er auf dem Weg durch die Wüste. Er rannte. Den Revolver hatte er bei sich, er hatte sich seit seinem Tod
durch den alten Mann zu keinem Zeitpunkt von ihm getrennt. Vielleicht, weil es das einzige war, was ihm geblieben war
und eine gewisse, schleierhafte Verheißung von ihm ausging. Aber das spielte keine Rolle mehr. Er würde die Wüste herausfordern,
würde soweit er konnte sich vom Feuer entfernen, das sich nun auf eine ihm unerklärliche Art und Weise rein intuitiv, auf eine
archaisch empfundenen Ebene als ein Wolf im Schafspelz, ein perfider Freund offenbarte, der einen unverzeihlichen
Verrat begangen hatte.
Also rannte er. Rannte soweit er konnte, bis das Feuer nur noch ein zu erahnendes, schwaches Funkeln in der Ferne war. Sein Körper
brannte und knirschte unter der Anstrengung des Rennens, und alsbald musste er aufgeben und sich mit einem langsamen, aber
nicht weniger entschlossenen Trott zufrieden geben. Ihm kam es vor, als er über die einheitliche Wüstenebnung schritt, die keine
nennenswerte Erhebungen oder Senkungen beinhaltete, als sei er Wochen in vollkommener Dunkelheit gelaufen. Kein Stern
am Himmel, hier und da fiel leichter Nieselregen und inzwischen war das Feuer hinter ihm nicht mehr auszumachen. Es war zu einem
kleinen, nicht mehr wahrnehmbarem Funkeln zusammengeschrumpft, und als er das registrierte, wie weit er den Linchpin dieser
Welt hinter sich gelassen hatte, überkam ihn das erste Mal seit einer empfundenen Ewigkeit ein Gefühl von Stärke, Macht und
Selbstbestimmtheit. Diese Welt musste ein Ende haben. So etwas wie Grenzenlosigkeit gab es nicht, und er würde die Grenzen
dieser Wüste ausfindig machen, und wenn er ewig laufen musste. Zu lange hatte er sich damit abgefunden, an diese Welt gekettet
zu sein wie ein bemitleidenswerter, vollkommen entwürdigter Köter. Zu lange. Er dachte an das Lächeln des alten Mannes, rief
es in Erinnerung, gedachte seiner Worte und flüsterte sie langsam vor sich her...."...ein gehetztes, gepeinigtes Tier...."

Es war perfekt gelaufen. Kollateralschaden mitinbegriffen, aber der König durfte nun in seinem blauen Dunst weilen, das Falsett
bedienen lassen, das jene unverblümte Melodie des Sieges über die Staatsgewalt hervorbrachte. Diese Wichser. Was hatten wir im Vorfeld,
geplant, durchdacht, kalkuliert und an Risiken mit einbezogen, und alles war gut gegangen, zwei Cops mussten leider den Löffel
abgeben, was solls, wir sind reiche Männer. Ich hatte eigentlich nicht damit gerechnet, dass die Geschichte gut geht. Es war
zu riskant, zu....hirnrissig, aber Kristof hatte die Sache minutiös geplant, und was soll ich sagen, ich ging da rein mit ner
gewissen Todessehnsucht und kam heraus als reicher Mann, man muss sich sein verdammtes Glück eben nehmen, wenn die
nicht damit rausrücken wollen. Diese verfickten Hurenbastarde. Das hatten sie davon. Das hatten sie alle davon. Kristof's
Lachkrampf hat endlich aufgehört, die Pfeife geht rum und wir zischen über die Interstate, ich bin endlich frei. Der Hunger,
die Jahre der Verachtung, der Ausgrenzung waren vorbei, endlich hatte ich die Mittel, mir zu nehmen, was ich wollte. Ich
war endlich mein eigener Herr. Ich würde mir das erste Mal Geltung verschaffen.

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