Pandoram Stream Pt. 1
Feuer
1.
Der Himmel erstrahlte makellos in dem vollkommensten Blau, dem er je beiwohnen durfte. Nirgendwo war eine Wolke zu sehen,
nur weit hinter ihm, das Ende des Horizonts küssend ein weißgraues, kilometerhohes Gehäuse aus Watte und weißem, aufgeblasenen
Himmelsstoff, und direkt über ihm, die haloeske Mutter, grell, lodernd und mit ihren Feuerzungen ziellos um sich schlagend.
Er konnte sich nicht erinnern, wie er an diesen Ort gekommen war.
Aber das war sein geringstes Problem.
Es war so heiß,
so trocken, das er sich nun endgültig nicht mehr auf seinen Füßen halten konnte. Er atmete tief ein, automatisiert und seltsam unbewusst
fuhr seine Hand an seinen Hals, betastete, fühlte das aufgedunsene, trockene Fleisch, den unregelmäßigen Puls,
er schluckte, dann fiel er auf die Knie und grub die Hände tief in den Sand.
Die Wüste war endlos.
Er konnte sich nicht besinnen, keinen klaren Gedanken fassen. Wie kam er hier her? So sehr sich sein
benebelter Verstand um Festigkeit, um Gegenwart bemühte, es blieb nur bei einem Ahnen, einem Erträumen einer Welt, die am Fuße dieser Wüste
lag, von der er stammte, und deren Wogen und Wellen ihn diesem majestätischen, trockenen Rachen ausgeliefert hatten. Seine Gedanken
expandierten in die Breite, ohne an Festigkeit zu gewinnen, er schloss die Augen und sah eine tänzerische, hektische Melange,
zusammenhangslos und gebrochen in ihrem Fluß, und er erkannte, dass dies sein Ende war, unrühmlich, grausam.
Er versah seine letzten Kräfte mit einem gedanklichen Fatalismus, der alles aus ihm rausholen sollte, er kämpfte dagegen an, das Bewußtsein
zu verlieren, als sich dieser große Schatten über ihn legte, und er hob den Kopf, geblendet von der Sonne und erblickte ein Ross, gewaltig,
mit anmutigem, pechschwarzem Fell und pupillenlosen, schneeweißen Augenhöhlen. Es schnaubte, wütend und entschlossen, trat aus, in
Zaum gehalten von der Frau, die auf dem Pferd saß und auf den Verirrten hinabblickte, ausdruckslos und erhaben. Der Verirrte
erkannte, dass sie etwas in den Armen hielt, es schien ein Kind zu sein, ein stiller, von der Hitze ungequälter Säugling, und er hob die Hand,
weil er kein Wort rauskriegen konnte, eine verkrampfte, schmerzvolle Geste ein Bitte Hilf mir ich sterbe, ein Gnadengeleit. Aber die Frau
blieb kalt, und der Verirrte hat das untrügliche Gefühl, sie zu kennen, sie sehr gut zu kennen, und plötzlich stieg sie vom Pferd herab und
näherte sich ihm. Durch den wässrigen Schleier erkannte er, dass sie übel mitgenommen schien, ihr Gesicht war überzogen mit blauen
Flecken, und just fing auch der Säugling an zu schreien. Die Frau bemühte sich gar nicht, das Kind zu besänftigen, und so explodierte das
Geschrei im Kopf des Verirrten und wurde nach einer unerträglichen Minute von der sanften Zusprache der Frau ergänzt.
"Hier gehörst du hin.
Von Anfang an hast du hier her gehört."
Sie beugte sich vor, küsste seine Stirn und sah ihm tief in die Augen.
"Ich hoffe, du leidest, mein Liebster."
Er wand sich, jammend, lachend, Er konnte den Anblick der Frau und des Kindes nicht ertragen, sie jagten ihm eine Urangst ein, die sich zu einer unerträglichen Scham aufblähte
und ihn zitternd von den beiden wegkriechen ließ. Er konnte nicht sagen, ob er sie kannte, konnte nicht sagen, wie er zu ihnen stand, wer er selbst war, er bestand nur
noch aus Knochen, Blut und jenem zusammenhangslosen Film, der in ihm toste, und so wand er sich, griff nach der letzten verbliebenen Wolke wie ein um Geleit bemühtes Kleinkind.
2.
Die Frequenz der Bilder nahm zu.
Die Stimmen wurden
heftiger, jegliches Gefühl entwich seinem Körper und seine Seele, seine Seele jagte aufgeregt das letzte Restgefühl in diese Fingerspitzen, die nach der
Wolke griffen. In der Kulmination seines Restvermögens auf diese vier Quadratzentimeter bestand er nur noch aus dieser einen Geste und ihrem zugrunde liegenden,
ozeanischem Vereinigungswillen, und als er Geleit gefunden hatte, waren die Frau, das Kind und das Ross verschwunden, und er war mutterseelenallein,
beruhigt und im Geiste stieg er zu der Häme der Wolken auf, vereinigte sich mit ihrem reinen Himmelsstoff, wurde zu einer Idee, einem Ausblick,
einer Rohform, die ihr Antlitz mit dem Drehen und Wenden des Windes veränderte.
Dann durchzuckte ein heftiger Schmerz seine Beine, die Dehydrierung kam zu ihrem Ende. Ein Schwall hellroten Blutes explodierte in
seiner Kehle, plätscherte auf Kinn und Hals nieder, der linke Arme vibrierte unter unsäglichem Druck und bog knirschend die Knochen. Sein Herz pumpte
in langen Abständen das Restblut in sein Hirn und gab ihm genug Wahrnehmungskraft für das Erschlaffen seiner restlichen Muskel. Sein Magen verkrampfte
sich unsäglich und seine Blase entleerte sich. Vollgepisst und blutbesudelt griff der Verirrte sodann ein letztes Mal nach der Wolke. Dann dampfte seine
Iris aus, das charakteristische Hellblau verblich und hinterließ eine graue vernarbte Landschaft. Die deutenden Finger erschlafften, der Mann
war tot und das Sandmeer begann mit seinem leisen, unbemerkten Begräbnis.
Wasser
1.
Etwas änderte sich an der Konsistenz des Sandes.
Das bemerkte er als erstes. Noch bevor ihm klar wurde, dass er bei Bewußtsein war.
Dann rannte ihm eine aufgeweichte Sandsalve in den Mund,
und erst als das Husten und um Luft schnappen seinen Körper packte und schüttelte, er mit wedelnden Armen um sich schlug, bemerkte er,
dass er vollkommen bei sich war. Dass er jede Faser seines Körpers spüren konnte. Er erhob sich, schob den aufgeweichten Sand von sich
und lugste alsbald aus seinem aufgeweichten Sandgrab hervor. Er hatte noch den Auftakt seines Begräbnisses bei Hitze und Feuer blutgurgelnd mitbekommen, gespürt,
wie der irrsinnige, gebrochene Film seine Seele aus dem Körper gedrängt hatte und zu ihrem Korrelat geworden war. Brabbelnd und stolpernd, sich kaum auf den Beinen
haltend kam er nun an die Luft, und
spürte den bitterkalten Regen, spürte die Schwingen dieser vollkommenen Nacht, die sich um ihn legten.
Er stand auf und rannte blindlings zwanzig Meter, getrieben und gejagt von der Unbegreiflichkeit des Diesseits.
Er erinnerte sich an die Wolke. An sein kochendes Blut, an das Ross, die Frau, das Geplärre. Er entsann sich wirr und keuchend, er wusste: Ich bin gestorben. Und dennoch tragen mich
diese Füße just gerade durch diese Wüste bei Nacht. Angestrengt blickte er nach oben, auf der Suche nach einer Lichtquelle oder einer anderen Orientierung.
Aber der Regenschleier war dicht, mit den Augen nicht zu durchdringen. Außer einer dunkelblauen, dämmrigen Einfärbung, die sich am Horizontgürtel
erahnen ließ war er vollkommen eingeschlossen in diesem peitschenden, von allen Richtungen auf ihn niederprasselnden Regen, und seine spärliche Kleidung,
zerfledderte, bereits vollkommen durchnässte Jeans, ein graues Shirt und eine Lederjacke vermochten ihm kaum Schutz vor der aufkommenden, ungemein
bitteren Kälte zu geben.
2.
Er rieb sich die Arme, versuchte bei sich zu bleiben, die Welt hinter den geschlossenen Augenlidern
zu stabilisieren, Bilder zu fixieren, Dinge, die ihm inmitten des Sturmes als hilfreiches Menetekel den Weg durch die Korridore weisen sollten. Er besann sich,
setzte einen Schritt vor den nächsten. Er musste in Bewegung bleiben, anderweitig würde ihn diese aufbäumende Kälte umbringen. Er hatte nicht die Kraft,
nicht die Weitsicht und den Mut, inmitten seiner Schritte seine Erinnerungen zu ordnen, wie er hier hin kam, ob er wirklich gestorben war, ob er halluzinierte. Er
erfasste nur die bitterliche Kälte, den peitschenden Regen und wie diese Elemente ihn der Welt der Lebenden zu entreißen drohten,
als sich plötzlich zwei starke Hände um seinen Hals legten und fest zupackten.
Jemand warf sich auf ihn, versuchte ihn zu würgen, verpasste ihm wütende, brutale Schläge ins Gesicht, versuchte ihn wieder zu würgen, zu treten, ihn
schlichtweg umzubringen. Der Verirrte schlug wild um sich, versuchte den entschlossenen Pranken etwas entgegenzusetzen und schnappte keuchend nach Luft.
"Du hast uns alleine verlassen, Gott verdammt! Du elendiger Bastard, du Mistkerl!!!", brüllte die Person, und für einen kurzen Augenblick konnte der Verirrte
inmitten eines Blitzes das Gesicht seines vermeintlichen Peinigers ausmachen, es war ein junges, von einer langen blonden Mähne gesäumtes Gesicht,
und es lag ein Ausdruck unbremsbaren Hasses in diesem Gesicht. Der Verirrte jedoch war noch nicht bereit zu sterben, er würde diesem wahnsinnigen Alptraum
nicht kampflos erliegen, also holte er aus, verpasste der Gestalt einen heftigen Schlag auf die Schlefe. Brüllend fiel die Person von ihm, und der Verirrte stürzte
sich sofort auf sich, entschlossen, den kurzen Vorteil auszunutzen.
Er holte aus, brach dem blonden Mann vielleicht die Nase, und legte mehrmals nach, ehe er ihn am Kragen packte und irrsinnig schüttelte.
Das Gesicht des Angreifers erschlaffte, das kantige, scharf geschnittene Gesicht wurde von einer vermeintlichen Erschöpfung eingepfärcht, Blut schoss aus der Nase, der braune, rauhe
Teint und die hellen Augen ließen vermuten, dass er Australier war, die vielen Narben im Gesicht wiesen auf ein Outlaw-Dasein hin. Der Verirrte legte einen
weiteren Schlag nach.
"Wo bin ich?!"
"Du hast ihnen meinen Namen gegeben, nicht wahr!? Du hast ihnen gesagt: Kristof hat das ganze initiiert, und
dann haben sie dich gehen lassen, ist es nicht so?!"
Der Verirrte hatte keinen blassen Schimmer, wovon sein Angreifer sprach.
Aber plötzlich verpasste ihm dieser eine so heftige Kopfnuss, dass der Verirrte betäubt von Schmerz von ihm runterrollen musste.
Entgegen seiner Erwartung griff ihn der Mann nicht noch einmal an. Er machte sich an, im tiefen Regenschleier zu verschwinden, hielt jedoch kurz inne
und brüllte:
"Hier gehörst du hin! Hier hast du von Anfang an hin gehört!!"
Der Verirrte konnte noch einen letzten flüchtigen Ausblick auf seinen Angreifer erhaschen, ehe dessen Silhouette vom Regenschleier verschlungen wurde.
Vielleicht würde der Regen und die Kälte niemals aufhören, vielleicht war er in zyklischen Novelle einer ewigen Wiederkehr gefangen, vielleicht
war er das Opfer eines perfiden Streiches, oder er lag im Koma und brach innerlich entzwei, seine Seele gespannt und geknebelt im Spannungsfeld von Kälte und Hitze,
verdammt dazu, ewig aufs Neue zu sterben.
Was auch immer passierte, er stand auf den Beinen und trottete vor sich her, getrieben, gepeitscht vom Regen und noch immer nicht ganz erholt vom Angriff. Lange
konnte er sich jedoch nichts vormachen. Ihm war klar, dass sein Körper seine Kräfte aufgebraucht hatte. Er hatte die Augen schon längst geschlossen, sein Körperempfinden
war vollkommen betäubt und einzig der rohe, panisch motivierte Wille, unter keinen Umständen stehen zu bleiben ließen ihn einen Fuß vor den anderen setzen.
Als er mehrere hundert Meter gelaufen war, die Schritte immer langsamer, die Augenlider immer schwerer wurden, packte ihn
der dumpfe, verlautbare Ruf der Müdigkeit und zog ihn in die Tiefe. Seine Beine gaben nach, er fiel nach vorne. Der Himmel komplementierte ein letztes Mal mit Donner
und einem achtlos über ihn hinweg ziehenden Windhauch. Er weinte noch, als sein Gemüt sich verdunkelte, dann krümmte er sich mit letzter Kraft zusammen und ergab
sich achtlos der Sandlawine, die über ihn hinwegfegte.
Der Mann
1.
Irgend etwas in ihm musste in der kurzen Zeit seines Dämmerungszustandes gekämpft haben. Ein heroischer, archaischer Überlebenswille, der seine Kräfte
wie elektrische Schläge durch seinen Körper gejagt hatte und ihn effizient seine verbleibenden Kräfte nutzen ließ.
Dieses etwas, dieses verzwickte und verzweifelte, aus der Fötusstellung seiner Aufgabe heraus nach dem Leben greifen hatte ihn davor bewahrt, endgültig im
Sande zu verschwinden, und ihn mit langsamen, unglaublich kraftaufwendigen Bewegungen immer wieder aus dem Sand kriechen lassen, als er zu ersticken drohte.
Die Kälte hatte seine Knochen und sein Fleisch mit einem empfindlichen, eisigen Film überdeckt, aber kurz bevor sein Herz die Last der Kälte und der Verzweiflung
nicht mehr zu tragen vermochte, erlosch der Regentanz in einem letzten, kaum vernehmbaren Donnern. Der Himmel grollte ein letztes Mal, lautlose Blitze und ein
erbarmungswürdiges Nieseln blieben zurück.
Der junge Mann blieb jedoch noch eine Zeit lang liegen. Unfähig sich zu bewegen, ermüdet, hungrig und gequält drehte er sich jammernd auf die Seite und erblickte das Panorama
einer endlosen Wüste beim Anbruch des Morgengrauens. Ein graublauer Farbfilm vereinnahmte Sand, Wolken und Firmament, tauchte diese Welt in ein
träumerisches, plötzlich endlos ruhiges Abziehbild eines vieldeutigen, vibrierenden Traumes. So göttlich ihm die Fügung erschien, die den Regen hatte enden lassen,
so unverhofft meldete sich die Stimme der Vernunft beim Anblick dieses endlosen Panoramas, die ihm unmißverständlich klar machte, dass er nie und nimmer soweit regenerieren
könnte, um diese Welt hier in einem langen Marsch hinter sich zu lassen. Er hatte kein Wasser, keine Nahrung dabei, und sein Körper war bereits vollkommen ausgelaugt.
Der Ausblick dieser erbarmungslosen Weite hielt ihn gefangen. Drückte ihn zu Boden.
Einzelne Tropfen fielen noch immer und ein leichter, warmer Wind bließ, fuhr ihm zärtlich durch die Haare, eine Willkommensgeste einer Welt, die ihren Linchpin
in ihm gefunden hatte.
So blieb er liegen, die aufgerissenen, erkalteten Augen schwebten in der Leere. Nirgendwo gediehen Sträucher oder verriet die Natur sonstige Bemühungen um organisches
Leben. Es war der einsamste Ort, den er sich überhaupt je hätte vorstellen können. Und sein Körper und seine Seele waren hier gefangen, eingebettet in der düsteren
Menuette eines träumerischen Morgenlichtes. Sodass er liegen blieb und schwieg, stundenlang, bemerkte er, dass es nicht heller wurde, dass dieser graublaue Film konstant
die Natur für sich beanspruchte und nicht aufhellen ließ, und was sollte er sagen, denken, fühlen angesichts dieser bizarren Unmöglichkeit, es entlockte ihm ein bitteres Lächeln
und bestätigte seinen immer tief aufkeimenden Verdacht, an einem Ort gefangen zu sein, der nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatte. Gefangen in einer Allegorie, die sein
Unterbewußtsein für ihn hergerichtet hatte. Vielleicht lag er wirklich im Koma. Oder, nachdem sein Körper zu Grunde gegangen war, fiel die erbarmungslose Wüste nun
über seine Seele her, würde sie ausgaren und eingehen lassen mit den Waffen eines unendlichen Ausblicks und jener Einsamkeit.
So würde er liegen bleiben, warten, bis sein Blick in die Leere zum Abgesang eines ewigen Zustandes würde.
Er hatte das schon als unverrückbare Wahrheit anerkannt, als er sich kurz aufrichtete und plötzlich den Geruch von brennendem Holz vernahm.
Seine so auf Ruhe eingestellte, wartende Seele erschrak bitterlich angesichts eines so vorsichtigen, kaum vernehmbaren Eindrucks, dass er sich nicht traute,
sich umzudrehen. Er wusste, dass der Geruch vom Wind zu ihm aus einer Richtung getragen wurde, in die er noch nicht geblickt hatte, weil er in einem tiefen
Verständnis ruhte, die Makellosigkeit der Weite so weit anerkannt zu haben, dass es keiner Blicke mehr bedürfte. Er wusste einfach, dass diese Wüste in alle Richtungen
mit der gleichen Endlosigkeit verlief und in einer unerreichbaren Ferne der Horizont den abgekühlten Sand in einer unsäglich sanften Berührung streifte.
Dennoch, dann drehte er sich langsam um,
und erblickte in der Ferne, mehrere hundert Meter von ihm entfernt ein einsames, fackelndes Feuer und eine spärliche, dunkle Rauchwolke.
Und mit einem Schlag keimte es in ihm auf, Wärme durchströmte seinen Körper. Er hatte sich
bereitwillig in die Aussicht auf eine ewige Einsamkeit eingelassen und war zutiefst davon überzeugt, dass dieses Feuer, dieses warme Zeichen nun ihm galt.
Etwas in dieser hämischen Allegorie musste Erbarmen mit ihm haben.
Er prüfte seinen Körper, die Verletzungen des Angreifers schmerzten noch immer. Er verschwendete keinen Gedanken mehr an die Frau mit dem Säugling
und an den Mann, der Kristof hieß. Er schob es seiner Amnesie zu, dass er keine Verbindung zu ihnen herstellen konnte, und ehe er diesen dichten
Vorhang des absoluten Vergessens niederreißen konnte, musste er zunächst sein Überleben sicher stellen. Und bis auf einen geprellten, gepeinigten Körper,
einen tief sitzendem Schock und den Kleidern, die er bei sich hatte war er mehr oder minder den Gezeiten dieser Wüste schutzlos ausgeliefert.
Unter unsäglichen Schmerzen und Erschöpfung rannte er los, so schnell er nur konnte. Atemlos und keuchend, mit einem irrsinnigen Glänzen
der Freude und Annahme in den Augen sog er den immer wieder aufkommenden Geruch von Feuerholz auf und kam der Stelle immer näher, bis es schlicht greifbar
schien. Dann verlangsamte er seinen Schritt, erschöpft und nach Luft ringend, lief aber unvermittelt und entschlossen weiter, bis er die Feuerstelle erreichte.
2.
"Setz dich."
Er gehorchte. Ohne auch nur einen Gedanken an Widerrede zu verschwenden, setzte er sich neben dem alten Mann ans Feuer.
In seinem Schoß ein makelloser, von der marginal aufblitzenden Wut der Natur unberührter, silberner Revolver.
In seinem Blick die züngelnden Flammen, die pulsierende Glut.
Er musterte den alten Mann lange und ungläubig.
Er hätte gerne widersprochen, hätte den Mann mit seinem Unglauben und seiner Verzweiflung konfrontiert, denn noch hatte ihn diese Wüste und ihr Licht
nicht vollkommen vereinnahmt. Er hatte Geruchsfetzen, Bilder und schmächliche Gefühle der Vergangenheit vorsichtig hervorgekramt, als er da gelegen hatte, gebunden und
gebrochen, genug Eindrücke aus den Tiefen seiner Seele, die ihn daran erinnerten, dass dieser Ort nicht richtig war, dass er nicht hier hin gehörte. Aber er konnte
nicht. Die graue, vernarbte und von tiefen Furchen gezeichnete Haut des alten Mannes, sein sorgsamer Seitenscheitel, der ein graubraunes, wild wucherndes
Haarnest zu bändigen versuchte, der sorgsam sitzende, vom Sturm und Regen anscheinend unberührte, graue Cortanzug und das seltsam vieldeutige Lächeln,
das seine Lippen umspielten, schnürten ihm die Kehle zu. Seine Nase war spitz und glatt, ein fremdartiges, vom Alter unberührtes Insignium, das in dieser Form
nicht in seinem Gesicht sitzen durfte, der Blick war um Festigkeit bemüht, aber in ihm ruhte die Erschöpfung eines alten, gepeinigten Köters, der sein Herrchen nicht
wieder erkennen konnte und die Welt um sich herum nur noch in hektischen, panischen Gebärden warhnahm.
Der silberne Revolver strahlte die nötige Autorität aus, die dem Mann den Mut nahm und zu guter Letzt
vermittelten diese tiefen, von einem unerklärlichen Schatten umspielten Augen allzu deutlich, dass dieser alte Mann jenseits von Gut und Böse die Wüste kannte,
als wäre er in ihr geboren worden, als hätte ihm Gott oder eine andere höhere Macht diesen Platz am Feuer zugewiesen. Welches Wissen ihm auch immer innewohnte,
der Mann spürte, dass der Alte dieses Wissen nicht teilen würde. Als er nach einer geschlagenen Minute noch immer reglos da stand und den alten Mann fixierte,
strafte dieser ihn mit einem kalten, präzise in seiner Wirkung kalkulierten Blick ab, und widerspenstig, mit einer hoffnungslosen und stoischen Hinnahme eines zu
Tode verurteilten setzte sich der Verirrte neben ihn.
Der alte Mann nahm den Revolver und öffnete die Trommel. Seine Bewegungen waren langsam, aber präzise, keine Regung war überflüssig. Er holte jede Kugel
einzeln raus und verstaute sie im Futter seines Jacketts, bis auf eine letzte Kugel. Er wand die Trommel, das ratternde, metallische Geräusch ließ den Mann zusammenzucken. Dann warf er sie zurück in ihre Ankerung, legte die Waffe in seinen Schoss zurück und starrte eine schweigsame Ewigkeit in die Tiefen der Glut.
"Der Mensch ist ein gehetztes, verunsichertes Tier.", sprach er plötzlich. "Er wird ohne Abbitte in diese Welt geworfen, altert, verdirbt und gerät in das Räderwerk einer Welt,
die er nur maginal versteht. Er wird von ihr geprügelt, seiner Würde beraubt, wird gewürgt und verlassen. Oft kann er es nicht besser machen, er schlägt um sich wie ein
umzingelter, gegeißelter Blinder. Er wird schwach, müde, er wird traurig. Aber er besteht auf sein Recht zu leben. Er besteht darauf und jeder von uns besteht auf sein Hoheitsrecht,
vor seinem eigenen geistlichen Auge gelten zu dürfen, etwas bedeuten zu dürfen. Und dann verschmilzt die Welt vor seinen Augen zu einer feindseligen Masse neidischer,
unnachgiebiger und ungönnerhaften Fratzen, und wir ballen unsere Fäuste, schlagen in diese Fassade ein, getrieben und erregt vom Geruch unseres eigenen Blutes. Wir schließen die
Augen und prügeln wie von Sinnen auf diese Fassade ein, bis wir müde werden, oder bis diese eine, unsere Faust einmal zu oft die falschen Fratzen zerberstet.
Dann suchen wir uns einen ruhigen, dunklen Ort zum Sterben, tätigen vielleicht einen letzten Anruf. Dann warten wir. Und sterben, unerlöst und benebelt."
Er sah den alten Mann unvermittelt an. Hatte er bis zu diesem Zeitpunkt zuviel Angst gehabt, seinen Gesichtsausdruck mit verräterischen Gefühlen zu füllen, brach diese Entschlossenheit
nun angesichts der Worte des alten Mannes. Er verstand nicht warum, vielleicht weil es der rauhe, unnachgiebige Klang seiner Stimme, der zärtliche, väterliche Singsang seiner Stimme.
Vielleicht war die Tiefe dieser Worte zuviel für das Gemüt eines Mannes, das eine empfundene Ewigkeit um die Akzeptanz einer kosmisch vorherrbestimmten Einsamkeit gekämpft hatte.
Was ihn auch immer an diesen Ort gebracht hatte, er musste diesen absurden Umstand mit Sinn füllen, und wenn er die Wirklichkeit dafür bis zur Unkenntlichkeit abstrahieren musste.
Aber bis jetzt, bis zu dieser bizarren Audienz hatte er diesen Schmerz nicht definieren können, er glaubte nun zu verstehen, welche Scham das Fundament für diesen Schmerz legte,
ja, er war sich plötzlich sicher, es war Scham, so groß, so allmächtig, dass sie die Bilanz eines ganzen Lebens, das in seinen wirren Schnipseln nachhallte, mit unerträglicher Pein
füllen konnte, und er musste schlagartig an sein verzweifeltes Kriechen, jene aufgeblähte Scham denken, die er verspürte, als sich ihm die Frau mit dem Säugling genähert hatte.
Dieser Ort war nicht sein Nemesis, es war keine auferlegte Strafe, kein initiiertes, von einer universalen Macht erdachtes Schicksalsendspiel, das verstand er plötzlich. Die Regel, nach der
er gelebt hatte, wie diese auch immer ausgehen haben mag, hatte ihn an diesen Ort geführt. Also welchen Wert konnte diese Regel haben? In den Worten des alten
Mannes lag somit etwas Vergebendes, sie betrachteten ihn als Mensch, als vollendete Summe spezifisch motivierter Handlungen. Er verstand nicht, wie aus diesem Nebel dieses
klare Wissen und Verstehen solcher Dinge geboren werden konnte, aber es war da, kristallklar, und als ihn der alte Mann nach diesen Worten mit einem zutiefst traurigen,
bedauernden Lächeln, das mitleidiger nicht sein konnte, bedachte, hatte er das Gefühl, dieses Verständnis ganz und vollkommen als wahrhaftig in sich aufnehmen zu können.
Der alte Mann reichte ihm den silbernen Revolver. Er nahm ihn an sich, betrachtete ihn kurz. Die perfekte Verarbeitung, das funkelnde Chrom des Laufes, die schwarze, hölzerne
Staffete des Halters, sie war zu schön.
Er hob die Waffe und hielt sie sich an die Schlefe. Der alte Mann würdigte ihn keines Blickes, als er den Abzug tätigte.
1.
Der Himmel erstrahlte makellos in dem vollkommensten Blau, dem er je beiwohnen durfte. Nirgendwo war eine Wolke zu sehen,
nur weit hinter ihm, das Ende des Horizonts küssend ein weißgraues, kilometerhohes Gehäuse aus Watte und weißem, aufgeblasenen
Himmelsstoff, und direkt über ihm, die haloeske Mutter, grell, lodernd und mit ihren Feuerzungen ziellos um sich schlagend.
Er konnte sich nicht erinnern, wie er an diesen Ort gekommen war.
Aber das war sein geringstes Problem.
Es war so heiß,
so trocken, das er sich nun endgültig nicht mehr auf seinen Füßen halten konnte. Er atmete tief ein, automatisiert und seltsam unbewusst
fuhr seine Hand an seinen Hals, betastete, fühlte das aufgedunsene, trockene Fleisch, den unregelmäßigen Puls,
er schluckte, dann fiel er auf die Knie und grub die Hände tief in den Sand.
Die Wüste war endlos.
Er konnte sich nicht besinnen, keinen klaren Gedanken fassen. Wie kam er hier her? So sehr sich sein
benebelter Verstand um Festigkeit, um Gegenwart bemühte, es blieb nur bei einem Ahnen, einem Erträumen einer Welt, die am Fuße dieser Wüste
lag, von der er stammte, und deren Wogen und Wellen ihn diesem majestätischen, trockenen Rachen ausgeliefert hatten. Seine Gedanken
expandierten in die Breite, ohne an Festigkeit zu gewinnen, er schloss die Augen und sah eine tänzerische, hektische Melange,
zusammenhangslos und gebrochen in ihrem Fluß, und er erkannte, dass dies sein Ende war, unrühmlich, grausam.
Er versah seine letzten Kräfte mit einem gedanklichen Fatalismus, der alles aus ihm rausholen sollte, er kämpfte dagegen an, das Bewußtsein
zu verlieren, als sich dieser große Schatten über ihn legte, und er hob den Kopf, geblendet von der Sonne und erblickte ein Ross, gewaltig,
mit anmutigem, pechschwarzem Fell und pupillenlosen, schneeweißen Augenhöhlen. Es schnaubte, wütend und entschlossen, trat aus, in
Zaum gehalten von der Frau, die auf dem Pferd saß und auf den Verirrten hinabblickte, ausdruckslos und erhaben. Der Verirrte
erkannte, dass sie etwas in den Armen hielt, es schien ein Kind zu sein, ein stiller, von der Hitze ungequälter Säugling, und er hob die Hand,
weil er kein Wort rauskriegen konnte, eine verkrampfte, schmerzvolle Geste ein Bitte Hilf mir ich sterbe, ein Gnadengeleit. Aber die Frau
blieb kalt, und der Verirrte hat das untrügliche Gefühl, sie zu kennen, sie sehr gut zu kennen, und plötzlich stieg sie vom Pferd herab und
näherte sich ihm. Durch den wässrigen Schleier erkannte er, dass sie übel mitgenommen schien, ihr Gesicht war überzogen mit blauen
Flecken, und just fing auch der Säugling an zu schreien. Die Frau bemühte sich gar nicht, das Kind zu besänftigen, und so explodierte das
Geschrei im Kopf des Verirrten und wurde nach einer unerträglichen Minute von der sanften Zusprache der Frau ergänzt.
"Hier gehörst du hin.
Von Anfang an hast du hier her gehört."
Sie beugte sich vor, küsste seine Stirn und sah ihm tief in die Augen.
"Ich hoffe, du leidest, mein Liebster."
Er wand sich, jammend, lachend, Er konnte den Anblick der Frau und des Kindes nicht ertragen, sie jagten ihm eine Urangst ein, die sich zu einer unerträglichen Scham aufblähte
und ihn zitternd von den beiden wegkriechen ließ. Er konnte nicht sagen, ob er sie kannte, konnte nicht sagen, wie er zu ihnen stand, wer er selbst war, er bestand nur
noch aus Knochen, Blut und jenem zusammenhangslosen Film, der in ihm toste, und so wand er sich, griff nach der letzten verbliebenen Wolke wie ein um Geleit bemühtes Kleinkind.
2.
Die Frequenz der Bilder nahm zu.
Die Stimmen wurden
heftiger, jegliches Gefühl entwich seinem Körper und seine Seele, seine Seele jagte aufgeregt das letzte Restgefühl in diese Fingerspitzen, die nach der
Wolke griffen. In der Kulmination seines Restvermögens auf diese vier Quadratzentimeter bestand er nur noch aus dieser einen Geste und ihrem zugrunde liegenden,
ozeanischem Vereinigungswillen, und als er Geleit gefunden hatte, waren die Frau, das Kind und das Ross verschwunden, und er war mutterseelenallein,
beruhigt und im Geiste stieg er zu der Häme der Wolken auf, vereinigte sich mit ihrem reinen Himmelsstoff, wurde zu einer Idee, einem Ausblick,
einer Rohform, die ihr Antlitz mit dem Drehen und Wenden des Windes veränderte.
Dann durchzuckte ein heftiger Schmerz seine Beine, die Dehydrierung kam zu ihrem Ende. Ein Schwall hellroten Blutes explodierte in
seiner Kehle, plätscherte auf Kinn und Hals nieder, der linke Arme vibrierte unter unsäglichem Druck und bog knirschend die Knochen. Sein Herz pumpte
in langen Abständen das Restblut in sein Hirn und gab ihm genug Wahrnehmungskraft für das Erschlaffen seiner restlichen Muskel. Sein Magen verkrampfte
sich unsäglich und seine Blase entleerte sich. Vollgepisst und blutbesudelt griff der Verirrte sodann ein letztes Mal nach der Wolke. Dann dampfte seine
Iris aus, das charakteristische Hellblau verblich und hinterließ eine graue vernarbte Landschaft. Die deutenden Finger erschlafften, der Mann
war tot und das Sandmeer begann mit seinem leisen, unbemerkten Begräbnis.
Wasser
1.
Etwas änderte sich an der Konsistenz des Sandes.
Das bemerkte er als erstes. Noch bevor ihm klar wurde, dass er bei Bewußtsein war.
Dann rannte ihm eine aufgeweichte Sandsalve in den Mund,
und erst als das Husten und um Luft schnappen seinen Körper packte und schüttelte, er mit wedelnden Armen um sich schlug, bemerkte er,
dass er vollkommen bei sich war. Dass er jede Faser seines Körpers spüren konnte. Er erhob sich, schob den aufgeweichten Sand von sich
und lugste alsbald aus seinem aufgeweichten Sandgrab hervor. Er hatte noch den Auftakt seines Begräbnisses bei Hitze und Feuer blutgurgelnd mitbekommen, gespürt,
wie der irrsinnige, gebrochene Film seine Seele aus dem Körper gedrängt hatte und zu ihrem Korrelat geworden war. Brabbelnd und stolpernd, sich kaum auf den Beinen
haltend kam er nun an die Luft, und
spürte den bitterkalten Regen, spürte die Schwingen dieser vollkommenen Nacht, die sich um ihn legten.
Er stand auf und rannte blindlings zwanzig Meter, getrieben und gejagt von der Unbegreiflichkeit des Diesseits.
Er erinnerte sich an die Wolke. An sein kochendes Blut, an das Ross, die Frau, das Geplärre. Er entsann sich wirr und keuchend, er wusste: Ich bin gestorben. Und dennoch tragen mich
diese Füße just gerade durch diese Wüste bei Nacht. Angestrengt blickte er nach oben, auf der Suche nach einer Lichtquelle oder einer anderen Orientierung.
Aber der Regenschleier war dicht, mit den Augen nicht zu durchdringen. Außer einer dunkelblauen, dämmrigen Einfärbung, die sich am Horizontgürtel
erahnen ließ war er vollkommen eingeschlossen in diesem peitschenden, von allen Richtungen auf ihn niederprasselnden Regen, und seine spärliche Kleidung,
zerfledderte, bereits vollkommen durchnässte Jeans, ein graues Shirt und eine Lederjacke vermochten ihm kaum Schutz vor der aufkommenden, ungemein
bitteren Kälte zu geben.
2.
Er rieb sich die Arme, versuchte bei sich zu bleiben, die Welt hinter den geschlossenen Augenlidern
zu stabilisieren, Bilder zu fixieren, Dinge, die ihm inmitten des Sturmes als hilfreiches Menetekel den Weg durch die Korridore weisen sollten. Er besann sich,
setzte einen Schritt vor den nächsten. Er musste in Bewegung bleiben, anderweitig würde ihn diese aufbäumende Kälte umbringen. Er hatte nicht die Kraft,
nicht die Weitsicht und den Mut, inmitten seiner Schritte seine Erinnerungen zu ordnen, wie er hier hin kam, ob er wirklich gestorben war, ob er halluzinierte. Er
erfasste nur die bitterliche Kälte, den peitschenden Regen und wie diese Elemente ihn der Welt der Lebenden zu entreißen drohten,
als sich plötzlich zwei starke Hände um seinen Hals legten und fest zupackten.
Jemand warf sich auf ihn, versuchte ihn zu würgen, verpasste ihm wütende, brutale Schläge ins Gesicht, versuchte ihn wieder zu würgen, zu treten, ihn
schlichtweg umzubringen. Der Verirrte schlug wild um sich, versuchte den entschlossenen Pranken etwas entgegenzusetzen und schnappte keuchend nach Luft.
"Du hast uns alleine verlassen, Gott verdammt! Du elendiger Bastard, du Mistkerl!!!", brüllte die Person, und für einen kurzen Augenblick konnte der Verirrte
inmitten eines Blitzes das Gesicht seines vermeintlichen Peinigers ausmachen, es war ein junges, von einer langen blonden Mähne gesäumtes Gesicht,
und es lag ein Ausdruck unbremsbaren Hasses in diesem Gesicht. Der Verirrte jedoch war noch nicht bereit zu sterben, er würde diesem wahnsinnigen Alptraum
nicht kampflos erliegen, also holte er aus, verpasste der Gestalt einen heftigen Schlag auf die Schlefe. Brüllend fiel die Person von ihm, und der Verirrte stürzte
sich sofort auf sich, entschlossen, den kurzen Vorteil auszunutzen.
Er holte aus, brach dem blonden Mann vielleicht die Nase, und legte mehrmals nach, ehe er ihn am Kragen packte und irrsinnig schüttelte.
Das Gesicht des Angreifers erschlaffte, das kantige, scharf geschnittene Gesicht wurde von einer vermeintlichen Erschöpfung eingepfärcht, Blut schoss aus der Nase, der braune, rauhe
Teint und die hellen Augen ließen vermuten, dass er Australier war, die vielen Narben im Gesicht wiesen auf ein Outlaw-Dasein hin. Der Verirrte legte einen
weiteren Schlag nach.
"Wo bin ich?!"
"Du hast ihnen meinen Namen gegeben, nicht wahr!? Du hast ihnen gesagt: Kristof hat das ganze initiiert, und
dann haben sie dich gehen lassen, ist es nicht so?!"
Der Verirrte hatte keinen blassen Schimmer, wovon sein Angreifer sprach.
Aber plötzlich verpasste ihm dieser eine so heftige Kopfnuss, dass der Verirrte betäubt von Schmerz von ihm runterrollen musste.
Entgegen seiner Erwartung griff ihn der Mann nicht noch einmal an. Er machte sich an, im tiefen Regenschleier zu verschwinden, hielt jedoch kurz inne
und brüllte:
"Hier gehörst du hin! Hier hast du von Anfang an hin gehört!!"
Der Verirrte konnte noch einen letzten flüchtigen Ausblick auf seinen Angreifer erhaschen, ehe dessen Silhouette vom Regenschleier verschlungen wurde.
Vielleicht würde der Regen und die Kälte niemals aufhören, vielleicht war er in zyklischen Novelle einer ewigen Wiederkehr gefangen, vielleicht
war er das Opfer eines perfiden Streiches, oder er lag im Koma und brach innerlich entzwei, seine Seele gespannt und geknebelt im Spannungsfeld von Kälte und Hitze,
verdammt dazu, ewig aufs Neue zu sterben.
Was auch immer passierte, er stand auf den Beinen und trottete vor sich her, getrieben, gepeitscht vom Regen und noch immer nicht ganz erholt vom Angriff. Lange
konnte er sich jedoch nichts vormachen. Ihm war klar, dass sein Körper seine Kräfte aufgebraucht hatte. Er hatte die Augen schon längst geschlossen, sein Körperempfinden
war vollkommen betäubt und einzig der rohe, panisch motivierte Wille, unter keinen Umständen stehen zu bleiben ließen ihn einen Fuß vor den anderen setzen.
Als er mehrere hundert Meter gelaufen war, die Schritte immer langsamer, die Augenlider immer schwerer wurden, packte ihn
der dumpfe, verlautbare Ruf der Müdigkeit und zog ihn in die Tiefe. Seine Beine gaben nach, er fiel nach vorne. Der Himmel komplementierte ein letztes Mal mit Donner
und einem achtlos über ihn hinweg ziehenden Windhauch. Er weinte noch, als sein Gemüt sich verdunkelte, dann krümmte er sich mit letzter Kraft zusammen und ergab
sich achtlos der Sandlawine, die über ihn hinwegfegte.
Der Mann
1.
Irgend etwas in ihm musste in der kurzen Zeit seines Dämmerungszustandes gekämpft haben. Ein heroischer, archaischer Überlebenswille, der seine Kräfte
wie elektrische Schläge durch seinen Körper gejagt hatte und ihn effizient seine verbleibenden Kräfte nutzen ließ.
Dieses etwas, dieses verzwickte und verzweifelte, aus der Fötusstellung seiner Aufgabe heraus nach dem Leben greifen hatte ihn davor bewahrt, endgültig im
Sande zu verschwinden, und ihn mit langsamen, unglaublich kraftaufwendigen Bewegungen immer wieder aus dem Sand kriechen lassen, als er zu ersticken drohte.
Die Kälte hatte seine Knochen und sein Fleisch mit einem empfindlichen, eisigen Film überdeckt, aber kurz bevor sein Herz die Last der Kälte und der Verzweiflung
nicht mehr zu tragen vermochte, erlosch der Regentanz in einem letzten, kaum vernehmbaren Donnern. Der Himmel grollte ein letztes Mal, lautlose Blitze und ein
erbarmungswürdiges Nieseln blieben zurück.
Der junge Mann blieb jedoch noch eine Zeit lang liegen. Unfähig sich zu bewegen, ermüdet, hungrig und gequält drehte er sich jammernd auf die Seite und erblickte das Panorama
einer endlosen Wüste beim Anbruch des Morgengrauens. Ein graublauer Farbfilm vereinnahmte Sand, Wolken und Firmament, tauchte diese Welt in ein
träumerisches, plötzlich endlos ruhiges Abziehbild eines vieldeutigen, vibrierenden Traumes. So göttlich ihm die Fügung erschien, die den Regen hatte enden lassen,
so unverhofft meldete sich die Stimme der Vernunft beim Anblick dieses endlosen Panoramas, die ihm unmißverständlich klar machte, dass er nie und nimmer soweit regenerieren
könnte, um diese Welt hier in einem langen Marsch hinter sich zu lassen. Er hatte kein Wasser, keine Nahrung dabei, und sein Körper war bereits vollkommen ausgelaugt.
Der Ausblick dieser erbarmungslosen Weite hielt ihn gefangen. Drückte ihn zu Boden.
Einzelne Tropfen fielen noch immer und ein leichter, warmer Wind bließ, fuhr ihm zärtlich durch die Haare, eine Willkommensgeste einer Welt, die ihren Linchpin
in ihm gefunden hatte.
So blieb er liegen, die aufgerissenen, erkalteten Augen schwebten in der Leere. Nirgendwo gediehen Sträucher oder verriet die Natur sonstige Bemühungen um organisches
Leben. Es war der einsamste Ort, den er sich überhaupt je hätte vorstellen können. Und sein Körper und seine Seele waren hier gefangen, eingebettet in der düsteren
Menuette eines träumerischen Morgenlichtes. Sodass er liegen blieb und schwieg, stundenlang, bemerkte er, dass es nicht heller wurde, dass dieser graublaue Film konstant
die Natur für sich beanspruchte und nicht aufhellen ließ, und was sollte er sagen, denken, fühlen angesichts dieser bizarren Unmöglichkeit, es entlockte ihm ein bitteres Lächeln
und bestätigte seinen immer tief aufkeimenden Verdacht, an einem Ort gefangen zu sein, der nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatte. Gefangen in einer Allegorie, die sein
Unterbewußtsein für ihn hergerichtet hatte. Vielleicht lag er wirklich im Koma. Oder, nachdem sein Körper zu Grunde gegangen war, fiel die erbarmungslose Wüste nun
über seine Seele her, würde sie ausgaren und eingehen lassen mit den Waffen eines unendlichen Ausblicks und jener Einsamkeit.
So würde er liegen bleiben, warten, bis sein Blick in die Leere zum Abgesang eines ewigen Zustandes würde.
Er hatte das schon als unverrückbare Wahrheit anerkannt, als er sich kurz aufrichtete und plötzlich den Geruch von brennendem Holz vernahm.
Seine so auf Ruhe eingestellte, wartende Seele erschrak bitterlich angesichts eines so vorsichtigen, kaum vernehmbaren Eindrucks, dass er sich nicht traute,
sich umzudrehen. Er wusste, dass der Geruch vom Wind zu ihm aus einer Richtung getragen wurde, in die er noch nicht geblickt hatte, weil er in einem tiefen
Verständnis ruhte, die Makellosigkeit der Weite so weit anerkannt zu haben, dass es keiner Blicke mehr bedürfte. Er wusste einfach, dass diese Wüste in alle Richtungen
mit der gleichen Endlosigkeit verlief und in einer unerreichbaren Ferne der Horizont den abgekühlten Sand in einer unsäglich sanften Berührung streifte.
Dennoch, dann drehte er sich langsam um,
und erblickte in der Ferne, mehrere hundert Meter von ihm entfernt ein einsames, fackelndes Feuer und eine spärliche, dunkle Rauchwolke.
Und mit einem Schlag keimte es in ihm auf, Wärme durchströmte seinen Körper. Er hatte sich
bereitwillig in die Aussicht auf eine ewige Einsamkeit eingelassen und war zutiefst davon überzeugt, dass dieses Feuer, dieses warme Zeichen nun ihm galt.
Etwas in dieser hämischen Allegorie musste Erbarmen mit ihm haben.
Er prüfte seinen Körper, die Verletzungen des Angreifers schmerzten noch immer. Er verschwendete keinen Gedanken mehr an die Frau mit dem Säugling
und an den Mann, der Kristof hieß. Er schob es seiner Amnesie zu, dass er keine Verbindung zu ihnen herstellen konnte, und ehe er diesen dichten
Vorhang des absoluten Vergessens niederreißen konnte, musste er zunächst sein Überleben sicher stellen. Und bis auf einen geprellten, gepeinigten Körper,
einen tief sitzendem Schock und den Kleidern, die er bei sich hatte war er mehr oder minder den Gezeiten dieser Wüste schutzlos ausgeliefert.
Unter unsäglichen Schmerzen und Erschöpfung rannte er los, so schnell er nur konnte. Atemlos und keuchend, mit einem irrsinnigen Glänzen
der Freude und Annahme in den Augen sog er den immer wieder aufkommenden Geruch von Feuerholz auf und kam der Stelle immer näher, bis es schlicht greifbar
schien. Dann verlangsamte er seinen Schritt, erschöpft und nach Luft ringend, lief aber unvermittelt und entschlossen weiter, bis er die Feuerstelle erreichte.
2.
"Setz dich."
Er gehorchte. Ohne auch nur einen Gedanken an Widerrede zu verschwenden, setzte er sich neben dem alten Mann ans Feuer.
In seinem Schoß ein makelloser, von der marginal aufblitzenden Wut der Natur unberührter, silberner Revolver.
In seinem Blick die züngelnden Flammen, die pulsierende Glut.
Er musterte den alten Mann lange und ungläubig.
Er hätte gerne widersprochen, hätte den Mann mit seinem Unglauben und seiner Verzweiflung konfrontiert, denn noch hatte ihn diese Wüste und ihr Licht
nicht vollkommen vereinnahmt. Er hatte Geruchsfetzen, Bilder und schmächliche Gefühle der Vergangenheit vorsichtig hervorgekramt, als er da gelegen hatte, gebunden und
gebrochen, genug Eindrücke aus den Tiefen seiner Seele, die ihn daran erinnerten, dass dieser Ort nicht richtig war, dass er nicht hier hin gehörte. Aber er konnte
nicht. Die graue, vernarbte und von tiefen Furchen gezeichnete Haut des alten Mannes, sein sorgsamer Seitenscheitel, der ein graubraunes, wild wucherndes
Haarnest zu bändigen versuchte, der sorgsam sitzende, vom Sturm und Regen anscheinend unberührte, graue Cortanzug und das seltsam vieldeutige Lächeln,
das seine Lippen umspielten, schnürten ihm die Kehle zu. Seine Nase war spitz und glatt, ein fremdartiges, vom Alter unberührtes Insignium, das in dieser Form
nicht in seinem Gesicht sitzen durfte, der Blick war um Festigkeit bemüht, aber in ihm ruhte die Erschöpfung eines alten, gepeinigten Köters, der sein Herrchen nicht
wieder erkennen konnte und die Welt um sich herum nur noch in hektischen, panischen Gebärden warhnahm.
Der silberne Revolver strahlte die nötige Autorität aus, die dem Mann den Mut nahm und zu guter Letzt
vermittelten diese tiefen, von einem unerklärlichen Schatten umspielten Augen allzu deutlich, dass dieser alte Mann jenseits von Gut und Böse die Wüste kannte,
als wäre er in ihr geboren worden, als hätte ihm Gott oder eine andere höhere Macht diesen Platz am Feuer zugewiesen. Welches Wissen ihm auch immer innewohnte,
der Mann spürte, dass der Alte dieses Wissen nicht teilen würde. Als er nach einer geschlagenen Minute noch immer reglos da stand und den alten Mann fixierte,
strafte dieser ihn mit einem kalten, präzise in seiner Wirkung kalkulierten Blick ab, und widerspenstig, mit einer hoffnungslosen und stoischen Hinnahme eines zu
Tode verurteilten setzte sich der Verirrte neben ihn.
Der alte Mann nahm den Revolver und öffnete die Trommel. Seine Bewegungen waren langsam, aber präzise, keine Regung war überflüssig. Er holte jede Kugel
einzeln raus und verstaute sie im Futter seines Jacketts, bis auf eine letzte Kugel. Er wand die Trommel, das ratternde, metallische Geräusch ließ den Mann zusammenzucken. Dann warf er sie zurück in ihre Ankerung, legte die Waffe in seinen Schoss zurück und starrte eine schweigsame Ewigkeit in die Tiefen der Glut.
"Der Mensch ist ein gehetztes, verunsichertes Tier.", sprach er plötzlich. "Er wird ohne Abbitte in diese Welt geworfen, altert, verdirbt und gerät in das Räderwerk einer Welt,
die er nur maginal versteht. Er wird von ihr geprügelt, seiner Würde beraubt, wird gewürgt und verlassen. Oft kann er es nicht besser machen, er schlägt um sich wie ein
umzingelter, gegeißelter Blinder. Er wird schwach, müde, er wird traurig. Aber er besteht auf sein Recht zu leben. Er besteht darauf und jeder von uns besteht auf sein Hoheitsrecht,
vor seinem eigenen geistlichen Auge gelten zu dürfen, etwas bedeuten zu dürfen. Und dann verschmilzt die Welt vor seinen Augen zu einer feindseligen Masse neidischer,
unnachgiebiger und ungönnerhaften Fratzen, und wir ballen unsere Fäuste, schlagen in diese Fassade ein, getrieben und erregt vom Geruch unseres eigenen Blutes. Wir schließen die
Augen und prügeln wie von Sinnen auf diese Fassade ein, bis wir müde werden, oder bis diese eine, unsere Faust einmal zu oft die falschen Fratzen zerberstet.
Dann suchen wir uns einen ruhigen, dunklen Ort zum Sterben, tätigen vielleicht einen letzten Anruf. Dann warten wir. Und sterben, unerlöst und benebelt."
Er sah den alten Mann unvermittelt an. Hatte er bis zu diesem Zeitpunkt zuviel Angst gehabt, seinen Gesichtsausdruck mit verräterischen Gefühlen zu füllen, brach diese Entschlossenheit
nun angesichts der Worte des alten Mannes. Er verstand nicht warum, vielleicht weil es der rauhe, unnachgiebige Klang seiner Stimme, der zärtliche, väterliche Singsang seiner Stimme.
Vielleicht war die Tiefe dieser Worte zuviel für das Gemüt eines Mannes, das eine empfundene Ewigkeit um die Akzeptanz einer kosmisch vorherrbestimmten Einsamkeit gekämpft hatte.
Was ihn auch immer an diesen Ort gebracht hatte, er musste diesen absurden Umstand mit Sinn füllen, und wenn er die Wirklichkeit dafür bis zur Unkenntlichkeit abstrahieren musste.
Aber bis jetzt, bis zu dieser bizarren Audienz hatte er diesen Schmerz nicht definieren können, er glaubte nun zu verstehen, welche Scham das Fundament für diesen Schmerz legte,
ja, er war sich plötzlich sicher, es war Scham, so groß, so allmächtig, dass sie die Bilanz eines ganzen Lebens, das in seinen wirren Schnipseln nachhallte, mit unerträglicher Pein
füllen konnte, und er musste schlagartig an sein verzweifeltes Kriechen, jene aufgeblähte Scham denken, die er verspürte, als sich ihm die Frau mit dem Säugling genähert hatte.
Dieser Ort war nicht sein Nemesis, es war keine auferlegte Strafe, kein initiiertes, von einer universalen Macht erdachtes Schicksalsendspiel, das verstand er plötzlich. Die Regel, nach der
er gelebt hatte, wie diese auch immer ausgehen haben mag, hatte ihn an diesen Ort geführt. Also welchen Wert konnte diese Regel haben? In den Worten des alten
Mannes lag somit etwas Vergebendes, sie betrachteten ihn als Mensch, als vollendete Summe spezifisch motivierter Handlungen. Er verstand nicht, wie aus diesem Nebel dieses
klare Wissen und Verstehen solcher Dinge geboren werden konnte, aber es war da, kristallklar, und als ihn der alte Mann nach diesen Worten mit einem zutiefst traurigen,
bedauernden Lächeln, das mitleidiger nicht sein konnte, bedachte, hatte er das Gefühl, dieses Verständnis ganz und vollkommen als wahrhaftig in sich aufnehmen zu können.
Der alte Mann reichte ihm den silbernen Revolver. Er nahm ihn an sich, betrachtete ihn kurz. Die perfekte Verarbeitung, das funkelnde Chrom des Laufes, die schwarze, hölzerne
Staffete des Halters, sie war zu schön.
Er hob die Waffe und hielt sie sich an die Schlefe. Der alte Mann würdigte ihn keines Blickes, als er den Abzug tätigte.
Dimitrios22 - 28. Jul, 20:57