Mittwoch, 29. April 2009

Threads Pt.5 : Das Auge eines jeden Sturms

Er hatte sich ihr durchaus verständlich gemacht, aber Christine nahm sich die Zeit, den Entschluss des Schakals in ihr Bewußtsein einsickern
zu lassen, und diese Minute gewährte er ihr auch. Seine Geduld wollte Christine jedoch nicht überstrapazieren, und als sie von der Bühne kletterte und
leichten Fußes auf ihn zuging, spürte sie, wie der Schrecken langsam aus ihren Knochen wich. Sie fühlte sich ruhig, gesetzt. Umgeben von
Entitäten, die jede Faser ihres Körpers und ihrer Seele guthießen und sich kein Urteil über das Summarum ihrer Geschichte erlaubten, war sie
buchstäblich befreit worden von allen Formen strikten Leids, sie trieb in den Wogen der Aula wie ein loses Blatt Papier.
Nichts, kein Moment, schien vergeudet worden zu sein, alles war an seinem rechten Platz; hier, am Schlusspunkt
ersparten ihr die Erinnerungen auf wundersame Weise die schwermütige Gewahrwerdung ihrer Geschichte.
Und sie sah, dass die Tür nach draußen ein Stück weit offen stand, und dass es draußen heftig stürmte. Die Natur tobte, trieb
ihre Kräfte über das Antlitz der Welt und ließ die alten Wände der Aula erzittern.
An der Seite des Ausgangs hatte der Schakal geduldig Stellung bezogen. Er sah ihr entgegen, seine Augen ein offenes, lebendiges Firmament, eine
sichelförmige, schneeweiße Iris, umrandet von dunklen Wogen. Die restlichen Schakale sahen Christine aufmerksam nach, als wären sie Zeuge
eines zeremoniellen, ehrfurchterregenden Aktes, derer sie nicht würdig waren.
Als sie an der Tür stand, fühlte Christine die gleiche bittere Kälte, die ihren luzidalen Lustrausch begleitet hatte, und sie strömte in unbarmherzigen,
heftigen Wogen nach innen. Ihr Gesicht verriet keine Furcht, sondern zeigte den stolzen Gleichmut einer zum Tode verurteilten, die das
Unausweichliche hinnahm und sich um Haltung bemühte. Die Fenster zitterten unter der Wucht des Sturmes, Staub wirbelte auf, die Natur
bemühte sich redlich, ihre Gefasstheit zu brechen, aber der Schakal stiftete mit einem vorsichtigen Blecken seiner Zähne seltsame Zuversicht.
"Der Fluß wird dich nach Hause bringen. Ich begleite dich ein Stück, wenn du nichts dagegen hast."
Sie lächelte.
"Warum sollte ich?"
Er quittierte die Gegenfrage, indem er seine Hand auf ihren Rücken legte und sie sanft zum Ausgang schob. Noch bevor Christine einen
Blick zurückwerfen konnte, stolperte sie nach draußen und wurde von der Wucht
der Natur vollends erfasst. Faustgroße Hagelkörner prasselten auf sie ein, eiskalter Regen zerrte an ihr, drückte sie nieder. Der gesamte
Himmel schien von dunklen, züngelnden Flammen verzehrt zu werden, Donner brach über sie beide herein, ehe die Welt ihre dunklen
Konturen einem blendenden, allgegenwärtigen Blitz preisgab. Durch die Kulisse des Regens
konnte Christine einen Blick auf eine Landschaft erhaschen, die von der Wucht des Sturmes ein neues Antlitz erhielt.
Aufgequollene, in Lawinen ausgesonderte Erde, ausgerissene Tannenstämme, die manchmal träge, manchmal sprunghaft über
die Hügel wanderten. Christine trat zurück, doch die Tür
zum alten Theater fiel zu, und nur die menschenähnliche Pranke des Schakals an ihrem Körper erinnerte sie daran, dass sie dem perfekten
Sturm nicht alleine ausgeliefert war. Er versprach Schutz, er war ihr Geleit, und just als sie auf die Knie fiel, ihr Körper erschüttert
vom ohrenbetäubenden, rauschenden Gebrüll des Sturms, brach die Welt entzwei und alles, was von der sintflutartigen Wut des Sturms
übrig blieb, war die Hand des Schakals an ihrer Hüfte.
Langsam öffnete sie die Augen. Das Treiben des Sturmes spielte sich hinter einer unsichtbaren Wand ab. Kein Rauschen,
keine Kälte drang zu ihnen durch. Ein gläserner, harter Kokon hatte sich schlagartig gebildet und schützte sie vor dem Sturm, gewährte
ihnen die Ruhe und den Ausblick, die nötig waren, um
sich den Eingeweiden der in sich zusammengestürzten Fassade aus Dunkelheit und Staub zu stellen. Hinter jener makellosen,
gläsernen Wand war es, als ob sie in einen pechschwarzen, brodelnden Ozean blicken würde, der sie sofort verschlingen würde,
sollte die Wand unter der knirschenden Kraft der Natur nachgeben.
Der Schakal blickte zufrieden einmal um sich und ließ von Christine ab.
Zwischen den rubingroßen Körnern, die
vom Himmel fielen, lautlos an der Wand zerschellten und den Schlieren der Regenwand blitzte das ungemein klare,
reflektierte Licht einer Sonne auf, die sich um Geltung bemühte. Ein Fluß, der keine großen Wellen schlug und dem Sturm nahezu
gleichgültig begegnete, bahnte sich seelenruhig und unaufhaltsam seinen Weg durch eine verwüstete Natur.
"Als Auge dieses Sturmes hast du das Privileg zu entscheiden, ob wir ost- oder westwärts entlang des Flusses wandern.", sprach
der Schakal, und Christine zögerte nicht lange und deutete aus einem unbestimmten Impuls heraus gen Westen.

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