Montag, 20. April 2009

Threads Pt.3 : Silber

An diesem Punkt war Christine schon so oft nach einer Aufführung angelangt. Ihr Körper fühlte sich leicht an, sie atmete ruhig, gleichmäßig und betrachtete
sich im Spiegel. Das Abflauen der bigotten Erregung fühlte sich unangenehm an, als hätte sie sich selbst als Teil dessen
entlarvt, dem sie stets mit so abschätzigem Gleichmut begegnet. Ein Linchpin in der Emulationsmaschine, dachte sie und
atmete tief ein. Ihre Hand
fuhr durch die Haare und tastete das Gesicht nach der Prellung ab, die sie sich eingeholt hatte, als der Schakal sie in die Wanne
gedrückt hatte. Oberhalb des Wangenknochens, kurz unterhalb der Schlefe fand sie die Schwellung und stöhnte kurz auf.
Heißer Dampf stieg aus der Dusche auf und beschlug den Spiegel. Als sich ihr Gesicht im Dunst verlor, streifte sie langsam das Kostüm ab, ehe sie
bis auf einen Slip splitterfasernackt auf den Kacheln stand und die Vorführung Revue passieren ließ. Diese Stille, der Riss in der
Kulisse, das schwarze Plastik, das berührt werden wollte. Momente in der Aufführung,
in denen ihr die Kontrolle regelrecht entgleiten wollte, um ein wenig Raum für echte Empfindungen schaffen zu können.
Das seltsam dialektische Ausblenden des Publikums und die echte Erregung in ihrem
Schoß, als die Schnauze des Schakals sich ihr aufgedrängt hatte. Etwas in diesem Sammelsurium der Eindrücke, vielleicht
eine Form des Stolzes, die ihr ausnahmsweise nicht unangenehm war, bescherte ihr den dosierten Schauer den sie benötigte, um
mit der Aufführung ihren Frieden schließen zu können.
Schließlich hatte sie gute Arbeit geleistet.
So ging sie ein weiteres Mal in sich und dankte als Katharina ab.
Der Moment, in dem Christine wieder die alleinige Kontrolle über ihren Körper erlangen konnte wäre nun erfolgt. Aber er kam nur zögerlich und
ließ sie eine lange Kette von Momenten lang in unerträglicher Leere verharren. Als
sähe sie sich gezwungen, sich bruchstückhaft wieder einzusammeln, sackte sie erschöpft ein und lehnte an das Waschbecken.
Ihre Gefühle trieben noch immer im Spannungsfeld zwischen dem, was sie vor wenigen Minuten war und dem Menschen, der sie nun wieder versuchte
zu werden.
Seufzend knebelte sie den rechten Nippel, bis er hart wurde, und starrte gedankenverloren in den Dunst.
Nichts regte sich in ihr. Der Blick in die Leere, den sie von Katharina übernommen hatte.
Diese geschundene Haltung. Sie war gefährlich gut darin, diese Schwäche und Selbstaufgabe zu emulieren.
"Komm zu dir.", flüsterte sie.
Starrte sich an.
Entledigte sich ihres Slips und wartete eine weitere Minute auf etwas, von dem sie nicht sagen konnte,
was es sein sollte.
Bis das Plätschern in der Dusche sie an all die künstliche, rote Farbe erinnerte, die ihren Körper zierte.
Christine bestieg die Kabine und drehte das heiße Wasser auf.
Katharina's Haut fiel wie Schuppen von ihr, der Chanson ihrer Schmerzen hatte aufgehört, in ihren Ohren zu klingeln. Ihr Körper
brannte in der Hitze und ergab sich der Woge. Die innere Unbestimmtheit, der Schwebezustand, diese unangenehme, entlarvende
Leichtigkeit, alles verging im Dampf und in der Hitze und wie als Antwort auf diese unrechtmäßige, innerliche Befreiung fing die
Prellung an unerträglich zu pulsieren. Irgend eine Regel, die auf sublime, schicksalshafte Weise ihr Leben vorausgezeichnet hatte,
hatte sie an diesen Punkt geführt. Christine wusste das und gestand sich einen Moment lang ein tiefes, seliges Vertrauen in die seltsame Ungestümtheit ein,
mit der sich diese Regel bis heute ihren Weg gebahnt hatte.
Angefangen von ihrer Kindheit in Lourdes, den kurzen Jahren in Paris, dem Ausbruch und den folgenden Jahren in
den Wirren aller Ecken, die Europa an sich selber noch nicht kannte. Stets ungestüm. Als wäre sie tief in sich
überzeugt, mit aller Gewalt Grenzen einreißen zu müssen, von denen sie oftmals nicht mal sicher war, ob sie überhaupt
existierten. Oft hatte sie sich selber diese Grenzen gesetzt, nur um sie dann einreißen zu können. Es lag auf
der Hand, dass dieser Selbstbetrug eines Tages auffliegen würde, und Schmerz würde folgen. Dies geschah, als
sie neunzehn war, und aus ihrer Orientierungslosigkeit erwuchs eine grassierende, schwer zu bändigende Depression.
Stöhnend drehte sie das Wasser noch heißer, bis es fast unerträglich wurde. Rote Schleifen umspielten ihre Füße, formten
Spiralen und verschwanden im Abfluß. Gesetzt in diesem Dunst war sie unsichtbar und zugleich blind für alles um sie herum.
Da sie auch mit dem Rücken zur Tür stand, bemerkte sie nicht, wie sich diese langsam öffnete.
Jemand mit der Körpersilhouette eines Menschen und den Kopfschemen eines Schakals trat in das Bad und schloß
die Tür wieder vorsichtig. Flink, ebenfalls tänzelten seine Füße über die Kacheln und kamen
der Duschkabine näher, der splitterfasernackte Schakal, sein erfrorenes Grinsen.
Die menschliche Hand des Schakals öffnete die Duschtür, aber Christine reagierte nicht. Erst als er ganz nah hinter ihr stand
und seine Schnauze in ihr nasses Haar versenkte, lächelte Christine. Mehr Reaktion konnte ihr das Erscheinen des Schakals
nicht entlocken. Dort verharrte er fast eine Minute, ohne sich zu bewegen,
wartete auf ihren Schrecken, auf ihre Erregung.
Dann drang sein allzu menschliches Glied von hinten in sie ein, er riss sie an sich, umschloss ihren Hals mit
seiner gewaltigen Hand und drückte ihr die Luft zu. Christine keuchte, aber wehrte sich nicht, stöhnte und lehnte den Kopf
nach hinten, um das schwarze Plastik erneut fixieren zu können. Vereint im Dunst
begannen sie sodann, sich im gleichen, immer heftiger werdenden Rhytmus zu bewegen. Sie suchte Halt, zerbiss
sich die Unterlippe, schlug heftig gegen die Kabine, aber gab keinen Schrei von sich. Das Plätschern erstickte ihr
heiseres Keuchen und des Schakals anschwellendes Grunzen, sie schufen sich einen begrenzten, atemlosen Kosmos
inmitten von Hitze und laufendem Wasser.
Die Hand des Schakals lag noch immer
um ihren Hals. Drückte zu, gab nach, drückte erneut zu. Tränen rannten über Christine's Wangen. Die Gewalt des
Schakals hatte sie nun an die Wand gedrückt, seine Hand ließ ab von ihrem Hals, packte ihren Kopf bei den Haaren und schlug
ihn gegen die Keramikwand. Christine seufzte, ein weiterer Schlag folgte, dann drückte ihr das Mischwesen
wieder die Luft zu. Ihr Körper erodierte und erzitterte, sie wurde fast ohnmächtig.
Als sie fertig waren, glitt der Schakal an ihr herab und setzte sich. Christine drehte das Wasser keuchend ab, bis nur noch
ein leichtes Tröpfeln zu hören war und setzte sich im Schneidersitz genau gegenüber den Schakal.
In undurchdringlicher Stille vereint fixierten sie einander, als hätten sie sich gerade erst kennengelernt. Verwundert,
mit zusammengekniffenen Augen wanderte Christine's Blick über den nackten, menschlichen Körpers des Schakals.
Ihre Finger zeichneten eine unsichtbare Linie auf seiner Brust, dann suchten ihre harten, eisblauen Augen
sein Antlitz.
"Du kannst die alberne Maske jetzt abnehmen."
Der Schakal schien die Stirn zu runzeln. Christine fügte noch ein gewinnendes Lächeln hinzu,
und räuspernd korrigierte das Mischwesen seine Sitzhaltung.
"Nenn sie nicht albern.", flüsterte er.
"Aber das ist sie."
"Sie ist das Antlitz eines Schakals."
"Ja. Und zwei Stunden nach der Aufführung trägst du sie noch immer."
Fragend, ohne ihr Lächeln los zu werden, hob sie die Augenbraue.
"Sie gefällt mir."
"Du hast wirklich zugebissen. Warum?"
"Ich hatte Lust."
"Mach das nie wieder."
Der Schakal lachte heiser.
"Warum? Hat es etwa weh getan?"
"Es hat mich durcheinander gebracht. Und es ist widerwärtig, vor mehreren hundert Leuten die Zunge
reingeschoben zu kriegen. Nie wieder."
"Ich habe ernsthaft darüber nachgedacht, die Szene zu erweitern und dich zu ficken."
"Ist das dein Ernst?"
"Ich hätte dich gerne gefickt. Vor all diesen halbtoten Aasgeiern. Und meine Ladung in die ersten Reihen gespritzt"
"Francois hätte das nicht gemocht, glaube ich."
"Francois gehört in diese ersten Reihe, wenn ich abspritze, und nicht auf diesen Stuhl."
"Mag sein." Christine hielt inne.
"Ich überlegs mir."
"Was?"
Ihr Blick leerte sich.
"Ich glaube...es würde mir gefallen."
Sie stand auf und stieg aus der Kabine, warf sich ein Handtuch um und begann, sich die Haare zu fönen. Der Mann
folgte ihr und stellte sich hinter sie. Er sah sie durch die Fratze des Schakals an, aber sie erwiderte seinen Blick nicht,
worauf er kurz im Hinterzimmer verschwand. Jemand hatte unzählige Kissen und Laken durch die Wohnung geworfen.
Zerstreut lagen sie in jedem Winkel und verdeckten das Möbiliar und den Spiegel im Wohnzimmer.
Das Licht war gedämmt und Moschusgeruch lag in der Luft. Frank's Wild Years, in Christine's Augen Tom Waits'
einzigstes echtes Meisterstück lag seit einer halben Stunde knisternd im Spieler und wartete darauf, umgedreht zu werden.
Und inmitten dessen kniete der splitterfasernackte Schakal und kramte in einem Koffer.
"Weißt du...ich denke, dass wir nach Amsterdam der Sache ein Ende setzen sollten."
Entsetzt hielt Christine inne und wandte sich zum Rücken des Schakals.
"Die Zusammenarbeit mit Francois, keine Sorge." Er kicherte leise. "Was hast du gedacht?"
"Ich dachte du redest von dem ganzen...Ding. Keine Ahnung, welchen Namen es verdient."
Angeregt seufzte der Schakal und richtete sich auf. "Gefunden."
"Hm?"
Er kam langsam zurück. "Wir sind zwei ordinäre Menschen auf der Suche nach ein bisschen mehr.", flüsterte er,
während er näher kam.
"Wie kommst du da jetzt darauf?"
"Bescheidene, sehnsüchtige, destruktive Menschen."
"Das ist wohl ein wenig untertrieben."
"Nun ja. Ich glaube an Intuition. Und mehr tue ich nicht, außer ihr zu folgen." Er hielt etwas in seiner
rechten Hand und verbarg es vor Christine. Das Knistern hörte nicht auf.
"Vielleicht sollten wir anfangen, die Fragen besser zu formulieren.", flüsterte Christine. Sie musterte
ihre Prellung und warf dem Schakal einen entnervten Blick zu.
"Das haben wir auch schon versucht, wie du weißt. Und entgegen der weltläufigen Meinung wissen wir beide,
dass totale Freiheit in die Isolation führt. Wir versuchen es besser zu machen. Anders."
"Eine Gefahr.", flüsterte sie und legte den Fön beiseite. Draußen auf den Straßen streckte die Welt mit Geräuschen ihre
Fühler nach ihnen aus.
"Wir sind eine Gefahr. Der ganzen Geschichte müde geworden. Uns sind die Worte ausgegangen, und jetzt suchen wir Kompensationswege."
"Erkenntnis."
Christine konnte sich ihren Spott nicht verkneifen.
"Ein wenig großspurig, mein Lieber."
"Ich glaube, du bist zu bescheiden. Wir sind in einer sehr priviligierten Situation. Schon seit langem. Das hat uns
reifen lassen und unseren Blick für das Wesentliche geschärft. Wir haben Dinge gesehen, Christine."
"Und unseren Respekt vor dem Leben verloren. Vor unserem eigenem. Und dem der anderen."
Sie sah ihn an.
"Manchmal, weiß ich nicht, was ich getan habe, um dich verdient zu haben. Und was ich ohne dich tun würde."
Er lächelte.
"Der Gutmensch, der sich vor der Erkaltung fürchtet. Die Rolle steht dir nicht, Christine."
"Ich meine es ernst. Wir verlieren an Willen."
"Aber schätzen dafür die Existenz mehr denn je. Desto mehr wir uns von dem, was sie Leben nennen, entfernen desto
näher kommen wir dem Kern dessen, was Existenz ausmacht. Bitte bring mich nicht dazu, so zu klingen,
Christine. Worauf ich hinaus will für heute abend, ist hier drinnen."
Er zeigte ihr die kleine, smaragdgrüne Schatulle.
"Danach gehen wir hin."
"Das ist nicht dein Ernst."
"Doch. Der Trip dürfte gute fünf, sechs Stunden anhalten, dann machen wir uns auf."
Wartend hielt er ihr die Schatulle unter die Nase. Die Schakalsmaske behielt er unbeirrt an.
Sie sah ihn auf undefinierbare Art und Weise an. Etwas an ihm, die Selbstläufigkeit seiner Ideen, die Eigendynamik,
mit der er regelmäßig die Grenzen überschritt ohne auch nur den geringsten Schaden zu nehmen machten ihr Angst.
Sein Verstand war kristallklar, und die Art und Weise, wie er die Welt sah, lichtete den Nebel um sie beide. Sein
Instinkt für die existentiellen Dinge war das sicherste und wärmste Leuchtfeuer, dass sie beim Aufbruch in diese Welt
gefunden hatte. Und sie war lange unterwegs gewesen. Hatte sich, verwirrt und großspurig angetreten, um magische
Türen zu finden, an
ihren Eingeweiden überfressen und sich hemmungslos vergiftet. Der Schakal verstand ihren Schmerz. Er versah den Menschen
mit Umschreibungen, die warm und vergebend sein konnten, er konnte in ihnen wühlen und auf Dinge stoßen, von denen
sie nichts ahnten. Er konnte die Menschen sowohl in ihren besten als auch schlimmsten Eigenschaften an sich binden.
Rein instinktiv erfasste er, was seinem Gegenüber Furcht einflößte,
was ihn aufheiterte, woraus dieser Mensch gemacht war und konnte in allen jenen sehnsüchtigen Geist
herauslesen, der ihnen Würde verlieh. Durch die Aufrichtigkeit der Sehnsucht. Da war sie verankert. Des Menschen Daseinsberechtigung.
Die Grenzen dieser Sehnsucht waren
das Mittel, um zu verstehen, wo der Geist selbst seine Grenzen setzte. Sie wusste, wie besessen er davon war, etwas,
was er eine zeitlose Entität nannte, im Wesen des Menschen, nicht in seinem Handeln lokalisieren zu können. Eine Entität,
die dem Menschen den höheren Kontext zuwies, der seiner Natur endlich gerecht werden konnte. Diese Sehnsucht
war schon lange geboren worden, bevor sie sich kannten, und seine riskante Entscheidung, den Weg dahin zu erfühlen,
nicht zu erfragen, lag wahrscheinlich ebenso lange zurück.
"Alles, was dem im Wege steht, ist das Ich, nicht wahr, Chris?", flüsterte sie.
Er legte den Kopf schief.
"Für den höheren Kontext der Dinge muss das Ich überwunden werden. Sein Betrug an der Entität muss
aufgedeckt und bestraft werden."
"Zitierst du mich gerade?"
Sie funkelte ihn kalt an.
"Arroganz steht dir nicht."
Er lächelte.
"...jJa...wahrscheinlich."
"Es kann nicht überwunden werden. Aber das hier, das hier kann uns helfen es für kurze Zeit aufzulösen.
Also mach deinen Mund auf."
"Erst nimmst du die Maske ab. Ich glaube nicht, dass ich den Anblick aushalten werde."
Er hielt kurz inne. Seine Körperhaltung verriet eine gewisse Enttäuschung. Wahrscheinlich hatte er darauf spekuliert,
mit der Maske dem Trip eine gewisse Note zu verleihen. Aber dann legte er die Schatulle neben sie an das
Waschbecken und nahm die Maske ab.
Seine kastagnienbraunen, mittellangen Haare waren von Schweiß und Hitze aneinandergeklebt und boten einen wüsten
Anblick. Er zwinkerte geblendet, dann fixierten seine geröteten Augen Christine und sahen sie lange an.
"Besser?"
Statt zu antworten griff Christine zur Schatulle und öffnete sie. Drinnen lagen zwei dünne Blättchen, geformt
wie kleine Chips. Sie glänzten silbrigmatt und waren eine Fingerkuppe groß.
"Fast rein. Aber auch nur fast.", flüsterte er.
"Hm.", entgegnete sie, nahm einen der Chips vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger und führte ihn
zu Christian's Mund. Er sah sie herausfordernd an, dann öffnete er seinen Mund und ließ sie gewähren.
Dann tat er das gleiche bei ihr, und sie sahen einander lange an.
"Und nun..?"
Er nahm ihre Hände, besah ihre Handflächen, und auf seinem Gesicht zeigte sich die fiebrige, suchende
Erwartungshaltung eines Menschen, der aus einem kommenden, zigfach durchlebten Ritual eine neue
Kraft schöpfen, eine ihm bislang unbekannte Variable rauslesen wollte, die ihm die Konstanten seines
Daseins erträglicher machen würden.
"Nun...kommt es."

Es musste schon eine ganze Weile wirken. Christine wusste mit Gewissheit, dass dies nicht ihr Körper war. Durch ihn
floß kein Blut, sein Fleisch war astrale Fiktion, die Luft, die sie dachte zu atmen war ebenso unecht wie die Tonnen
von Staubflocken, die langsam zu Boden trieben. Sie war wieder auf der Bühne, und die gesamte Aula sah aus, als
wäre sie vor Jahren geschlossen worden. Der irreale Atem, der einfache Wimpernschlag brachte die Totenruhe in diesem
Ort zum Erzittern, die Fasern der Jahre auf den roten Stickdecken, die die hunderten Theatersitze verbargen schossen
angesichts jeder Regung Christine's erschrocken in die Luft, um wieder langsam zurückzupendeln.
Grelles Licht blendete sie. Es war der Richtkegel, der eigentlich das Augenmerk des Publikums auf die
passende Ecke des Geschehens auf der Bühne richten sollte. Aber nun fiel es auf Christine. Und es blendete, versengte
ihr die Haut mit dieser schieren, unerträglichen Hitze. Erst jetzt bemerkte sie
die abschälende Haut, die in durchsichtigen, sauberen Fetzen schlaff an ihr herabhingen. Sie zerfiel, aber als sie
an ihrem Körper entlang herabblickte sah sie ihre eigene Haut, rein, unbeschädigt, unberührt, nur jene unnatürliche
Fetzen, die an ihr hingen und ihr anscheinend nie gehört hatten. Sie sah um sich. Sie erwartete nicht, jemanden vorzufinden,
der wie sie vorübergehend an diesen Ort gekettet war. Aber diese klirrende Einsamkeit inmitten der Aula schien ihr
trotz der augenscheinlichen Botschaft ihres Unterbewußtseins nahe zu gehen; alles war erstaunlich klar und bislang hatte
ihr Innerstes soweit jene Ebenen abgeschält, um ihr einen Einblick auf etwas zu gewähren, was sie zwar schon lange
wusste, aber nicht minder bedauerte. Eine simple, räumliche Allegorie, die das allzu Offensichtliche zu Tage förderte.
Das arme, einsame Mädchen auf der Bühne.
Christine grinste.
Die Stille wird bald brechen, mein Kind, flüsterte sie, und wie auf Kommando
knarrte einer der Plenarsessel.
Dann noch einer. Und ein weiterer. Sie brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass sie die Situation
in der Aula grundlegend falsch eingeschätzt hatte. Sie war alles andere als allein. Es war einerseits erleichternd, weil es die bleierne Einsamkeit
von ihr nahm, aber anderseits sah sie sich mit dreißig, vierzig dunklen Gestalten konfrontiert, die verstreut über der gesamten
Aula in den Sesseln saßen, mit jener monolithischen Ruhe, durch die sie ewigen Besitzanspruch auf diesen Ort in Christine's
Innerstem vermeldeten.
Und ihre Köpfe, soweit es ihre diffusen Schemen verrieten, waren die von Schakalen, ruhig, wartend und mit
ihrem Blick auf die Bühne gerichtet, wo es außer Christine nichts gab. Ihr Herz stockte. Sie realisierte mit erstaunlicher
Klarheit, dass dreißig bis vierzig Schakalsmenschen in der Aula saßen, keinen Laut von sich gaben und sie, Christine,
in aller Ruhe betrachteten.
Sie versuchte gar nicht zu fliehen. Bislang hatte sie ihre Glieder kaum bewegt, und sie wusste instinktiv, dass
diese ihr jeden größeren Befehl verweigern würden. Und wenn nicht: Der Kegel würde sie finden und sie sofort
wieder in den Fokus zerren. Plötzlich begann die warme Woge in ihrem Bauch ihr Übriges zu tun. Das Acid setzte
die körpereigenen Opiate soweit frei, dass sie stöhnend die Augen schloss und eine Welle durch ihren Körper schlug,
die sie in die Kniee zwang.
Die Sessel knirschten angeregt.
Die Wirklichkeit griff also durch den schwarzen Mantel der Aula hindurch und füllte das astrale Fleisch mit Erregung. Zwischen
ihren Schenkeln wurde es feucht, eine unwirkliche, aber klare Wärme, der sie nichts entgegensetzen konnte,
ergriff über ihren ertaubenden Körper die Kontrolle, Speichel hing an ihren Mundwinkeln,
die halbgeschlossenen Augen suchten im Flimmern nach den Schakalsköpfen. Sie saßen noch immer, die meisten
von ihnen mit verschränkten Beinen, manche hielten schwere Cognacgläser in ihren menschlichen Händen, und keiner von ihnen offenbarte eine Miene
oder ein Gefühl.
Erneut. Die Woge. Eine weitere, heiße Explosion in der Bauchmitte schickte die Opiate, das Glück auf
eine Reise. Die körperliche Erregung inmitten eines Traumes begann, zum Gegenstand des Trips zu werden, was
untypisch war, aber dies war auch keine typische sexuelle Erregung. Es war furchtsame Gier, geboren aus dem
Exhibitionismus, der sie den dunklen Betrachtern schutzlos auslieferte. Und so tierisch ihr Geschlecht und zwielichtig
ihre Manieren waren, sie ertrug es nicht, ohne Kommunikation dem Schirm ihrer Aufmerksamkeit unterworfen zu sein,
also trieb sie mit ihnen auf dieser animalischen, imaginären Welle, und der Affront, nun Lust zwischen den
Schenkeln zu spüren war eine Schutzmaßnahme, ein unterwürfiger Versuch, das Schweigen der Schakale zu brechen.
Soweit sie es beurteilen konnte, während ihr Schritt mit seiner Vibration die Stille der Aula brach und ihr Körper
den Staub zum Tanzen brachte, reagierten sie mit fast argwöhnischer Stille, während sich Christine mehr und mehr
selbst verlor. Die Wogen folgten in immer dichterem Abstand und erschwerten es ihr, beisammen zu bleiben. Es waren
horrende Orgasmen. Schier unkontrollierbar, ihre Kehle zuschnürend. So gab sie es auf, auf
die Beine zu kommen, sie blieb liegen, während ein erstickter Schrei nach dem anderen explodierte
und ihr im Anschluss ein infantiles Brabbeln über die Lippen ging. Der Verlust der ihr so wichtigen, galanten Weiblichkeit, aus dem Affront
der Lust wurde ein zutiefst erbärmliches Schauspiel.
Dann, plötzlich, stand einer der Schakale auf. Sie bemerkte es erst, als er die Hand hob und sprach.
"Bitte.", sagte er, mit klarer, fester Stimme, die ihr jedoch fremd war, "Bitte, bitte hör auf."
Verwirrt über den sachten, zurückhaltenden Tonfall des Schakals kroch sie von der Aula weg, in Katharina's geschundener,
gespielt flehentlicher Pose. Die Bedrohung, die von diesem
Voyeurismus ging, verpuffte mit einem Schlag, und Christine lachte. Laut und hysterisch. Lachte den Schakal aus. Lachte über ihre eigene törichte Annahme, diese Mischwesen würden ihre
Erregung teilen. Anscheinend waren sie aber über Christine's hemmungslose Körperexplosion echauffiert. Fast
peinlich berührt. Seltsame Traumwesen. In der Unsicherheit, mit der die Bitte an Christine getragen wurde, entblößten die ungebetenen Gäste in den Sesseln
eine seltsame, um Moralität und Zügelung bemühte Art und Weise, und um ihre Schemen bildete sich ein leuchtender Aureol, ein Kranz,
der Vergebung verhieß, dem Christine aber nicht trauen konnte. Eine weitere Woge. Ein weiteres, spöttisches Kichern, und Christine
genoss die Entwürdigung der Schakale so sehr, dass diese zum Mittelpunkt ihrer gegenstandslosen, morbiden Lust wurde.
Der Schakal unterließ es, den Satz ein zweites Mal vollständig vorzutragen und beließ es angesichts
Christine's Spott bei einem letzten, eindringlichen "Bitte."
Eine weitere Woge unterbrach ihr Lachen. Härter als die davor. Sie erwischte Christine mit derartiger Brutalität, dass sie sich luftschnappend
und mit verkrampften Gliedmaßen aufrichten musste, um Luft zu kriegen.
Es begann, die Grenze zum Schmerz zu überschreiten. Noch während die Wärme der Woge in ihren Füßen verloren ging,
bemerkte sie an der grotesken Anspannung ihrer Glieder, dass sie immer noch in einem Traum war. Immer noch gefangen
in der Aula, mit kreideweißen Knochen, Fetzen von Haut, in einer Lache von Tränen und Sekret.
Sie warf sich nach hinten und genoss die wenigen Sekunden vollkommen ohne Orgasmus. Sie kapitulierte, war unfähig, einen
tieferen Sinn in dieser Szenerie zu erkennen, bisweilen hatte er ihr Lust, Explosion, Diffarmierung und vorausgehende
Einsamkeit geschenkt, jetzt war da nur noch der Spott für die Schakale, und sie sehnte sich zusehends nach der zügelnden,
geißelnden Macht der Furchtsamkeit.
Nun lag sie da, ein tropfendes, tränenüberströmtes Häufchen Elend und wartete mit gemischten
Gefühlen auf die nächste Woge.
Die auf sich warten ließ.
Und da spürte Christine die unheilvolle Vibration, die die Aula unmerklich, aber mit konstanter Bestimmtheit zu füllen begann.
Der Staub trieb langsamer zurück auf die Stickdecken. Der Kegel
flackerte kurz, die Schakale wurden unruhig, etwas geschah, das nicht von ihr ausging. Der Raum schien zu Leben zu kommen,
und eine erbarmungslose Kälte begann, Christine zu erfassen. Bläuliches Flimmern bildete sich auf den Anzügen der Schakale,
der Stoff der plenarartigen Sessel knarrte unter der kontraktierenden Kraft einer sich anbahnenden, unermeßlichen Kälte.
Innerhalb weniger Sekunden lag ein Frostschirm über jegliches Möbilar, und kristalline Stecknadeln funkelten über
die gesamte Aula verteilt. Es knarrte. Etwas bewegte sich in diesem riesigen, unfüllbaren Raum, etwas fiel dezent in
Form von Vibration über sie her, beschnüffelte sie, und es war rigoros, es war schlecht und hungrig.
Und inmitten der Schakale erhob sich einer von ihnen, der so recht nicht zu den anderen passen wollte. Seine Kleidung
war zu leger, die unsichere Art der anderen haftete ihm in keinster Weise an, und Christine begriff, dass er es war,
der diese Kälte, die Vibration befohlen hatte. Dieser Raum unterlag ihm, nicht ihr, er war sein Mittelpunkt, nicht sie,
und, Christine begriff es sofort, er war der Ursprung dieser finsteren Woge, die ihr die Todesangst in die Glieder trieb. Das
Sekret zu ihren Füßen war zu einer glänzenden Lache verhärtet, die Orgasmen schienen Stunden zurückliegen, und es gab
nichts zwischen diesem Unterwerfer, diesem Saboteur ihrer Traumreise außer klirrende Kälte und die paar Sekunden, die
sie, so glaubte Christine, vor ihrem sicheren Tod trennten.
Der sinistre Schakal applaudierte verhalten, dann begann er, über die Sitze Richtung Bühne zu klettern.

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